Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
des kleinen Druckhauses in der Tuchmacherstraße ein, die Martha heiraten wollten. Stand Martha hinter der Theke im kleinen Ladenbereich und half aus, versammelten sich dort im Laufe des Nachmittags einige junge Männer, die sich verschiedene Papiere und Druckbilder zeigen ließen, sich aber selten entscheiden konnten. Sie wägten ab, kamen miteinander ins Gespräch, mit unverhohlenen Blicken in Marthas Richtung prahlten sie über ihre eigenen Geschäfte und Studien und umwarben Martha, so gut sie konnten. Erst wenn einer sich traute und sie fragte, ob er sie einmal zum Kaffee einladen dürfte, und sie lachend ablehnte, sie gehe niemals mit Kunden einen Kaffee trinken, rückte die Entscheidung für einen kleinen Druckauftrag näher. Aber sie kamen wieder, die Männer, sie bewachten einander, jeder Einzelne achtete darauf, dass kein anderer höher in Marthas Gunst stünde als er selbst. Helene konnte die Männer gut verstehen, nur wollte sie gern allein ein Leben lang neben der schönen Martha einschlafen und aufwachen. Die Ehe mit einem Mann erschien Helene völlig sinnlos und unnötig. Eine Heirat war das Allerletzte.
Und was glaubst du, warum Vater dich keinem Arthur Cohen zur Frau geben wird?
Warum wohl? Martha ließ ihren Kopf auf das Kissen sinken, sie sah weniger nachdenklich als ärgerlich aus, und als Martha unter dem Kopfkissen ein Taschentuch hervorholte und sich ausgiebig schnäuzte, wie die Mutter es nach langem Weinen tat, bereute Helene, Martha gefragt zu haben. Doch dann breitete sich unerwartet ihr Lächeln aus, ein Lächeln, dessen sie sich in letzter Zeit kaum erwehren konnte, das leicht in ein Kichern umschlug und selten – nur wenn kein Vater und keine Mutter zugegen war – zu einem vollen, ausgelassenen Lachen wurde.
Engelchen, wie soll er sich denn auf Mutter verlassen? Wenn Mutter zu einem Jahrmarkt fährt, wird sie für Tage nicht gesehen. Bestimmt steigt sie in Zwickau und Pirna in Gasthäusern ab und tanzt mit fremden Männern bis in den Morgen.
Niemals. Helene musste lächeln, weil sie nicht wusste, ob Martha diese Vermutung nur äußerte, um sie zu ärgern, oder ob etwas Wahres an dieser Behauptung war.
Wer soll sich dann um dich kümmern? Er kann nicht auf sein Pferd steigen und in den Krieg ziehen, ohne uns versorgt zu wissen. Er fürchtet sich, das ist alles. Und er möchte, dass ich für dich sorge. Das werde ich auch. Du wirst sehen.
Helene wollte nichts erwidern. Sie ahnte, dass jedes Wort Martha dienen könnte, eifriger und genauer über die Möglichkeiten ihres Entkommens nachzudenken. Seit Wochen schon dachte sie gewiss über nichts anderes nach, als wie sie mit Arthur Cohen ein gemeinsames Leben beginnen könnte.
Von wem ist das, was du liest?
Nichts für dich.
Ich will es aber wissen.
Alles willst du wissen. Martha rümpfte die Nase, sie freute sich über Helenes Neugier und den Vorsprung, den sie selbst noch hatte. Als Helene vor einem Jahr endlich die Städtische Mädchenschule am Lauengraben besuchen durfte, konnte sie bereits lesen und schreiben. Sie hatte von Martha auf dem alten Klavier das Spielen gelernt, wobei Martha voller Bewunderung und mit ein wenig Neid ihr dabei zusah, wie geschmeidig ihre Hände von Anfang an, so ganz ohne Übung, über die Tasten glitten, wie schnell ihr Lauf auch in den tiefen Oktaven wurde und wie sicher sie die Melodien erinnerte, die Martha sich oft mühsam zusammensuchen und Note für Note lesen musste. Noch schneller und sicherer als mit den Fingern auf dem Klavier sprang Helene mit Zahlen im Kopf um, egal, welche Zahlen Martha Helene zuwarf, Helene hatte keinerlei Mühe, die Zahlen umzuwandeln, aufzubrechen, zu teilen und mit anderen in neue Zusammenhänge zu fügen. Schon nach wenigen Wochen in der Schule setzte die Lehrerin Helene zu den älteren Schülerinnen und gab ihr die Aufgaben für Zehnjährige. Inzwischen war Helene sieben. Es zeichnete sich ab, dass die Lehrerin in wenigen Monaten ihr gesamtes Wissen an das Mädchen weitergegeben haben würde, ohne dass es das angemessene Alter erreicht hätte. Helene schämte sich dafür, nicht schnell genug älter zu werden. Sie fürchtete sich auch. Mit vierzehn, spätestens sechzehn gingen die Mädchen zurück in ihr Elternhaus, sie übernahmen die Hauswirtschaft und wurden Männern zugeführt, von denen man sagte, sie wären wohlhabend und genössen ein Ansehen, das ihnen die junge Frau mehren sollte. Nur wenige durften die Höhere Schule besuchen, diese wenigen waren unter
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