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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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mühsame Art den Kopf.
    Helene blieb in der Tür stehen. Schwer sind die Handgriffe nicht, sagte Helene und fühlte sich, als lüge sie. Sie sehen schön aus, meine Preistafeln. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen am Montag eine mitbringen und wir könnten tauschen – Sie bekommen eine Preistafel und ich vier Laibe Brot.
    Lass man, sagte die Bäckersfrau.
    Drei?
    Dass Mädchen jetzt die Arbeit von Männern machen, das können wir nicht unterstützen. Deine Mutter ist wohlhabend. Warum hat sie den Schriftsetzer nicht im Dienst gelassen?
    Keine Sorge, im September fange ich mit der Schwesternschule an. Wir haben nichts mehr. Das meiste war Geld. Und das Geld ist wertlos geworden.
    Mit dem Runzeln der Augenbrauen verriet die Bäckersfrau ihren Zweifel. Jeder verdächtigte in dieser Zeit seinen Nachbarn, mehr zu besitzen als er selbst. Helene dachte daran, wie sie zu Beginn des Jahres der Mutter eine Freude hatte machen wollen, in ihr Zimmer gegangen war und für eine große Wäsche ihr Laken abgezogen hatte. Erst als sie die Matratze anhob, um das neue Laken aufzuziehen, sah sie die Scheine. Eine Unmenge von Scheinen steckte da im Federboden. Die Scheine unterschiedlichster Währung klemmten bündelweise zwischen den Federn, zusammengehalten von Büroklammern. Es waren kleine Zahlen, die auf die Scheine gedruckt waren, lächerlich kleine. Als Helene, erschrocken über ihre ungewollte Entdeckung, eilig das alte Laken wieder über die Matratze schlug, ertönte hinter ihr die Stimme ihrer Mutter.
    Du kleines Aas. Wieviel hast du mir schon entwendet, wieviel?
    Helene drehte sich um und sah, wie sich ihre Mutter vor Wut kaum noch am Türrahmen festhalten konnte. Sie zog an ihrer dünnen Zigarre, als söge sie Erkenntnis.
    Seit Jahren frage ich mich schon: Selma, frage ich mich, wer bestiehlt dich hier? Ihre Stimme klang leise und drohend. Wie viele Jahre sage ich mir, es wird nicht deine Tochter sein, Selma, niemals, nicht dein Kind.
    Ich wollte nur die Bettwäsche wechseln, Mutter.
    Was für eine Ausrede, was für eine feine, schäbige Ausrede. Mit diesen Worten stürzte sich die Mutter auf Helene, sie umklammerte ihren Hals, so fest, dass Helene nicht anders um Luft ringen konnte, als ihre Hand gegen die Mutter zu erheben und sie mit aller Kraft von sich zu drücken, sie kniff in ihre Arme, doch die Mutter ließ nicht locker. Helene wollte schreien und konnte nicht. Erst als Schritte auf der Treppe ertönten und sich das Mariechen hörbar räusperte, ließ die Mutter von ihr ab.
    Seither hatte Helene keinen Fuß mehr in das Zimmer ihrer Mutter gesetzt. Helene dachte daran, wie sie sich beim Anblick der Scheine erschrocken hatte und fragte sich, wie es ihrer Mutter bei der lückenlosen Buchführung gelungen sein konnte, das Geld beiseite zu schaffen. Geld, da war sich Helene sicher, das schon jetzt, wenige Monate später, kaum noch einen Wert hatte. Geld, das beizeiten ausgegeben wohl ein ganzes Haus und vielleicht ein Studium bedeutet hätte.
    Helene sah die Bäckersfrau Hantusch an. Sie musste denken, dass deren Zweifel dem Missmut über die eigene Lage entsprang.
    Letzte Woche haben wir ein besonders festes Papier bekommen, mit hohem Wachsanteil. Helene lächelte so freundlich wie möglich. Es hält Feuchtigkeit aus, das wäre gerade richtig für Ihr Geschäft.
    Danke, Lenchen, vielen Dank. Aber ich kann meinen Kunden den Tagespreis nennen. Die Bäckersfrau zeigte sich mit ihrem wulstigen Zeigefinger auf den Mund. Hier. Das zählt. Papier wäre die reinste Verschwendung.

Als Ernst Ludwig Würsich unangekündigt an einem Abend Ende November den Pfleger, der ihn die letzten Kilometer nach Bautzen in einem Leiterwagen gezogen hatte, an seine Haustür klopfen ließ und das Mariechen ängstlich ob der späten Störung öffnete, ihn kaum wiedererkannte und ihn schließlich doch mitsamt dem Pfleger und im Zuge der erklärenden Worte in die Stube bat, befand sich seine Frau in einem Zustand seelischer Dämmerung. Einzig ihr Nachttopf stand alle paar Stunden vor ihrer Tür. Meist leerte das Mariechen ihn und dreimal am Tag stellte sie ein kleines Tablett mit Mahlzeiten dort hin. Die Mutter lag in ihrem Bett und wusste seit Wochen zu verhindern, dass eine ihrer Töchter oder das Mariechen ihr Zimmer betrat.
    Der Vater wurde in die Stube gebracht und in seinen Sessel gesetzt. Er blickte sich um und fragte: Meine Frau, lebt hier nicht meine Frau?
    Natürlich, lachte das Mariechen erleichtert. Die Dame macht sich zurecht. Mögen Sie

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