Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
musste erst recht bemerkt werden und ein Schweigen unmöglich machen.
Mit der Zeit gewöhnte sich Helene an den Gedanken, dass Martha eine Gewohnheit, einen alltäglichen Umgang mit der Spritze pflegte. Helene sprach Martha nicht darauf an. Auch hätte sie kaum aufrecht die Frage stellen können, wo sie doch wusste, dass Martha seit dem Sterben des Vaters und Leontines Verlassen hin und wieder geringe Mengen spritzte, Morphium vermutlich, vielleicht Kokain.
Es waren in der Zeit seit Vaters Tod vor allem die Briefe von Tante Fanny, die Helene auf ein noch fremdes Leben jenseits der Bautzener Stadtgrenzen hoffen machten. Allein die Ansichten, die Helene von Berlin kannte, ließen sie von den vielen Gesichtern der Stadt schwärmen. War Berlin mit seinen elegant gekleideten Frauen nicht das Paris des Ostens, das London des Kontinents mit seinen nie endenden Nächten?
Doch Tante Fanny schwieg den ganzen Oktober zu jenem ausführlichsten und prächtigsten Brief, den ihr Martha und Helene je zugedacht hatten. Anfang November ertrug Helene das Warten nicht länger und schrieb erneut. Sie hoffe, der Tante sei nichts zugestoßen? Immerhin, hier in Bautzen sei man ihr wirklich mehr als dankbar für die Vermittlungen zu den Verwandten des Erblassers nach Breslau. Ob der letzte Brief angekommen sei? In Bautzen ginge das Leben so seinen Lauf. Helene habe nach den Prüfungen, das Wort glänzend strich Helene wieder, im September ihre Arbeit in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses aufgenommen. Seither verdiene sie etwas mehr, freue sich aber besonders über die Arbeit, die ihr zugeteilt werde. Martha nahm Helene die Feder aus der Hand und ergänzte mit ihrer krakeligen Schrift, dort erobere sich Helene den Platz der vor zwei Jahren nach Berlin verzogenen Schwester Leontine, einer Freundin. Aufgrund ihres außerordentlichen Talents wünsche sich der Professor nun immer häufiger Helene an seine Seite, wenn er bei schwierigen Operationen eine Unterstützung mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit und sicheren Händen brauche. Helene wollte Marthas Sätze streichen, etwas daran schien ihr prahlerisch und unbotmäßig. Aber Martha sagte, Helenes größter Fehler könne werden, ihre Fähigkeiten zu verheimlichen und schließlich als armes Hascherl bettelnd in den Armen eines Mannes zu enden. Martha hielt Helene die Feder entgegen.
Das glaubst du nicht wirklich? Es wäre Helene lieb gewesen, wenn Martha sie nicht immer wieder auf ihre Weise herausforderte. Helene nahm die Feder und schrieb weiter.
Die Pflege der Mutter sei nunmehr dank der Hinterlassenschaften des Onkels gesichert. Tante Fanny wäre herzlich eingeladen und zu jeder Zeit der willkommenste Gast. Mit besten Grüßen und in der Hoffnung auf ein baldiges Lebenszeichen.
Helene überlegte, ob sie sich für die ausschweifenden Beschreibungen ihrer Wirtschaftsverrichtungen im vorangegangenen Brief entschuldigen sollte. Schließlich mochte die Tante von derlei gelangweilt und abgestoßen sein. Dass sie das heilige Vorbild für eine Beleidigung halten konnte, wollte sich Helene nicht vorstellen. Womöglich empfand sie es als Zumutung, von den beiden protestantischen Nichten aus dem Lausitzer Kaff zum Vorbild erkoren worden zu sein?
Es vergingen Wochen. Erst kurz vor Weihnachten traf der langersehnte Brief ein. Er war umfangreicher und erschien flüchtiger geschrieben als die vorigen, die ineinanderliegenden Buchstaben waren kaum entzifferbar. Sie habe jede Menge mit den Erledigungen für die Festlichkeiten zu schaffen, die Kinder ihres Vetters freuten sich auf Chanukka und sie wolle ihnen kleine Geschenke kaufen, selbst ihr Geliebter rechne zu Weihnachten mit einer Aufmerksamkeit. Der werde schon sehen. Sie erwarte zu Chanukka Besuch von den Vettern aus Wien und Antwerpen mit der ganzen Mischpoke. Gerade heute habe sie alle Hände voll zu tun, weil sie mit ihrer neuen Köchin die Speisefolge für die Festtage besprechen wolle. Die Köchin sei noch ganz grün hinter den Ohren, jung und unerfahren, so dass sie ihr immer wieder beim Zubereiten der Speisen helfen müsse. Das gefalle ihr gut, schließlich koche sie selbst gern und habe es nicht gemocht, mit wieviel Mehl ihre alte, endlich in Pension entlassene Köchin, jede Soße zu einem festen Brei geraten ließ. Je älter die Köchin geworden sei, desto dicker wären ihre Soßen geraten, auch mehrten sich die Mehlklümpchen, die sie entweder mit ihren trüben Augen nicht mehr hatte erkennen können oder die sie vielleicht
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