Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
gar absichtlich in den Soßen hatte ent stehen lassen. Aus Überdruss an der Arbeit? Womöglich im Ärger über ihren Mann, der sie bis an sein Lebensende allein hatte arbeiten lassen und den schlaffen Ärmel als Vorwand dafür genutzt hatte, ihre Tüchtigkeit auszubeuten. Sie habe die alte Köchin im Verdacht gehabt, Milch oder Sahne in die Töpfe zu schütten, obwohl sie ihr mehrfach geboten hatte, solcherlei zu unterlassen. Bestimmt wolle sie nicht heucheln und behaupten, nach alten Speisevorschriften zu leben. Nein, sie möge derlei milchige Manschereien nicht. Mehr noch als die Klümpchen hätten sie zuletzt die täglichen Schimpfereien über den faulen Mann zu Hause gestört. Und das wolle was heißen, wo doch die Soßen kaum noch Soßen zu nennen waren! Dass schließlich die Frikasseestücke aufrecht im Mehlbrei gestanden hätten, dabei sei nicht die Spur mehr von Lorbeer und Zitrone zu schmecken gewesen. Fleischpudding, einfach scheußlich!
Helene und Martha mussten lachen, als sie den langersehnten Brief in den Händen hielten. Eine Welt lag da aufgefaltet vor ihnen, jeder Satz musste mehrmals gelesen werden.
Helene und Martha fragten sich, ob solche Vettern aus Wien und Antwerpen auch ihre Verwandten wären, die Bezeichnung und der Umstand, dass Tante Fanny in keinem ihrer Briefe einen Ehemann erwähnte, ließ die Vermutung zu. Unmerklich richteten sich Martha und Helene auf. Sie saßen auf der Ofenbank und wärmten ihre Rücken. Es schien ihnen, als umspanne der Brief den ganzen Erdball mit einem Netz und wäre Tante Fanny die Vertraute und Kennerin dieser Welt, wenn nicht gar die Welt selbst. Im Postskriptum schrieb die Tante, ihr Weg führe in absehbarer Zeit gewiss nicht in die Lausitz, im Postpostskriptum schrieb sie, aber sie könne sich vorstellen, dass die Mädchen einmal nach Berlin kommen wollten, zu Besuch, und gern auch für länger. Anbei fänden die Mädchen zwei Eisenbahnfahrkarten erster Klasse von Dresden nach Berlin. Gewiss sei Dresden der nächste richtige Bahnhof? Ihre Wohnung sei groß genug, da sie selbst keine Kinder habe. Arbeit gäbe es in Berlin bestimmt für die beiden Mädchen. Sie wolle zu gern dafür sorgen, dass aus ihnen etwas werde.
Helene und Martha sahen sich an. Lachend schüttelten sie den Kopf. Hatten sie noch vor zwei Jahren beim Tode des Vaters geglaubt, ihr Leben werde von nun an darin bestehen, im Krankenhaus zu arbeiten und an der Seite ihrer zunehmend verwirrten Mutter in Bautzen alt zu werden, gab dieser Brief den Auftakt für eine erst zu erträumende Zukunft. Helene griff nach Marthas Hand und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Sie betrachtete ihre große und ältere Schwester, die sie stets für die bescheiden wirkende Haltung bewundert hatte, deren Augenaufschlag seine Anmut aus dem vollkommenen Schein einer Reinheit bezog, und deren Reiz doch von jenen Küssen geprägt war, die Helene zwischen Martha und Leontine beobachtet hatte. Helene kannte den Anschein weiblicher Tugend gut, das sittsame und bescheidene, das reine Mädchen, nichts lieber als das sollte ein Mädchen geben, machte ein Mädchen aus, doch etwas anderes sprach aus diesem Brief und weckte jetzt Helenes Verlangen. Helene küsste ihre ältere Schwester auf das Ohrläppchen, sie saugte sich daran fest, und je hemmungsloser der Schwester die heißen Tränen über die Wangen flossen, desto besinnungsloser lutschte Helene – als wäre dieses Lutschen am Ohrläppchen und den salzigen Rinnsalen der Schwester ihre einzige Möglichkeit, deren Tränen nicht zu sehen und nichts denken noch sagen zu müssen. Helene und Martha saßen eine unbestimmte Zeit aneinander, Gesicht an Gesicht. Erst nach einer Weile kam das Denken wieder. Marthas Weinen, die Erleichterung, von der es ausgelöst und gekennzeichnet war, ließ Helene ahnen, wie sehr Martha gelitten haben musste. Wechselte Martha nicht seit zwei Jahren romantische Briefe mit ihrer fernen Freundin in Berlin, die zwar unglücklich in ihrer Ehe war, aber froh über die vielen Theater und Clubs der Stadt? Vor einigen Tagen erst, als Helene noch voller Hoffnung und Ungewissheit auf den Brief von Tante Fanny wartete, hatte sie nicht widerstehen können und heimlich einen an Martha adressierten Brief an sich genommen. Er kam von Leontine aus Berlin. Helene hatte Marthas Spätdienst im Krankenhaus ausgenutzt und den Brief geschickt über dem dampfenden Wasserkessel geöffnet. Süße Freundin, so begann Leontine. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie
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