Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Leontines Wangen, ihre Küsse flogen in die Luft über Leontines Schultern, zwei, drei, vier, nur Helenes Nase berührte die Ohren der Freundin. Wie konnte Leontine ihren Duft aus der Lausitz bis in den heutigen Tag retten?
Der Baron war während der Prozedur des Haareschneidens ständig an der offenen Tür des Badezimmers vorbeigeschlichen, steckte unter fadenscheinigen Vorwänden seinen Kopf zur Tür herein und stieß dabei Klagen aus. Das könne er nicht sehen, rief er, während er mit der Hand nur zaghaft die eigene Bresche befühlte und kaum mehr bedecken konnte. Eine Sünde ist das!
Martha überreichte Helene ein knielanges Kleid aus Seidenatlas und Chiffon, das sie selbst noch in der letzten Saison getragen hatte und das ursprünglich von Fanny stammte. Helene würde jetzt groß genug sein, das stimmte. Nur war Helene nicht so mager wie Fanny und Martha. Leontine zögerte nicht, sie ließ das Kleid an den Nähten aus und verlangte eine Nadel. In weniger als einer halben Stunde passte das Kleid Helene wie angegossen. Aus dem Augenwinkel sah Helene, wie der Baron sich bückte und ihr zu Boden gefallenes Haar aufhob. Er legte sich die langen goldenen Strähnen über den Arm und verschwand damit, beinahe unbemerkt, aus dem Badezimmer. Fanny verkündete, sie fühle sich für Atlas zu alt und zu jung. Für Helene wäre das Kleid das richtige, sagte Fanny und sah nicht mehr hin, als Helene das Kleid angezogen hatte. Gymnasialkurs und Kleid mussten ihr als geeigneter Weg erscheinen, Helene loszuwerden.
Die Nacht in den Sommer, die Luft war warm, ein Wind kam auf. War Helene die neue Frisur nicht geheuer? Sie setzte jenen Hut auf, der mit der Hinterlassenschaft des Breslauer Groß onkels nach Bautzen geschickt worden war, ein topfähnlicher Hut, ähnlich denen, die jetzt alle Frauen trugen, nur war ihrer aus Samt und mit Straßsteinchen besetzt.
Fanny ging mit Lucinde und dem Baron voraus, Leontine und Martha nahmen Helene in ihre Mitte und hängten sich ein. Der Duft von Lindenblüten wehte ihnen entgegen. Ein durchsichtiger Schal aus Organza ersetzte Helene ein Jäckchen. Angenehm kühl strich der Wind um ihren Hals.
Am Eingang der Weißen Maus standen zwei weißgesichtige Menschen, deren Schminke schwer erkennen ließ, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Die Portiere verhandelten ohne Lächeln über den Einlass der Gäste, Bekannte wurden begrüßt und Fremde abgewiesen. Fanny wurde erkannt, sie steckte mit einem der beiden Portiere den Kopf zusammen und sagte ihm wohl, dass der Baron, Lucinde und die jungen Frauen zu ihr gehörten. Dem Portier war das recht, mit einer einlassenden Geste öffnete er ihnen die Tür. Das Lokal war nicht besonders groß, die Menschen standen eng aneinandergedrängt. Weiter vorn an einer Bühne gab es Tische, an denen Gäste saßen. Die Zeit, in der eine gewisse Anita Berber hier ihren Tanz des Lasters und des Grauens aufführte, ein Spektakel, das nur mehr Totentanz hieß, war vorüber, es hieß, sie sei jetzt auf einer richtigen Bühne angekündigt, erscheine aber nicht allzu häufig. Doch jeder der Gäste sah sie noch hier auf der Bühne stehen. Immer wieder gingen die Blicke zu den roten Vorhängen, als vermute man, sie könne dort jeden Augenblick erscheinen und tanzen. Man hatte lesen müssen, wie sie von ihrem Liebsten in Wien bestohlen und verlassen worden war, worauf er nach Amerika gereist sein und dort binnen eines Jahres vier Frauen geheiratet haben sollte. Das neueste Gerücht lautete, er sei zurück in Hamburg schnell verstorben.
Doch statt der Berber versammelten sich bald drei Musiker auf der Bühne, eine Posaune, eine Klarinette und eine Trompete. Und als Helene noch glaubte, mit diesen langgezogenen Tönen übten sie, begannen einzelne Gäste mit dem Tanzen. Helene wurde durch die Menge geschoben, Fanny gab an der Garderobe ihren Umhang ab und nahm Helene ungefragt den Hut vom Kopf, Lucinde ließ Champagner und Gläser kommen. Sie tuschelten, war das nicht Margo Lion, die dort hinten in einer Traube von Menschen stand? Die Blicke des Barons galten einzig Helene, sie klebten an ihr, an ihrem Gesicht, an ihren Schultern, ihren Händen. Seine Blicke gaben ihr ein zugleich sicheres und unangenehmes Gefühl. Die Nacktheit ihres Halses war wohl eine Herausforderung, eine nicht ungewollte, wie Helene zu sich sagte, aber eine durchaus erregende. Plötzlich spürte sie einen Atem auf ihrer Schulter, und der Baron sagte mit seiner zarten Stimme, die fast
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