Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
quietschte, wo er ihr Festigkeit verleihen wollte: Helene, dein Schal ist dir von der Schulter geglitten. Helene sah an sich herab, verständnislos betrachtete sie den Baron, der ihr heute Nacht noch kleiner als sonst erschien. Wieder näherte er seine Lippen, fast küsste er ihren Hals: Ich sehe deine Grübchen in den Schultern, und sie machen mich verrückt.
Helene musste lachen. Jemand stieß ihr sacht in den Rücken.
Du solltest den Schal wieder um die Schultern legen, sonst entdecken dich andere Männer.
Der Baron wollte wohl ein Recht an ihrer Nacktheit äußern. Helene drehte sich um. Hinter ihr standen Fanny und Lucinde, sie hatten Bernard und einen Freund getroffen. Fanny forderte ihre Freunde und Nichten auf, sich ein Glas vom Tablett zu nehmen. Es war ein Glück, dass es in diesem Lokal laut war. Helene wollte dem Baron nichts erwidern, sie ließ nachlässig den Schal in ihren Armbeugen, auch das Klimpern mit den falschen Wimpern war aufregend, und es machte ihr gar nichts aus, wenn andere Männer ihre Grübchen sahen.
Leontine begrüßte einen jungen Mann, sie stellte ihn vor, sein Name sei Carl Wertheimer. Die Musik wurde so laut, dass Leontine schreien musste, während er sich mit den Händen die Ohren zuhielt. Er sei einer ihrer Studenten in der Pathologie, schrie Leontine, einer, der sich hineingeschummelt habe. In Wirklichkeit studiere er Philosophie und Sprachen, Latein, Griechisch, aber auch neuzeitliche Literaturen, offenbar wolle er Dichter werden. Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf. Niemals. Doch, sagte Leontine lachend, sie habe schon einmal beobachtet, wie er im Kreise von Studenten ein Gedicht auf gesagt hätte, gewiss ein selbst gedichtetes. Carl Wertheimer wusste nicht, wie ihm geschah. Er sei ein ganz gewöhnlicher Student, wenn er den Ovid oder Aristoteles zitiere, dann dürfe man das nicht mit den nachahmenden Bemühungen Heranwachsender vergleichen. Im Übrigen besitze er in Anbetracht der klugen Damen nicht den Mut, sich zu solchen Bemühungen zu bekennen. Leontine fuhr ihm über das Haar, so, wie eine große Schwester es machen könnte, sie ließ ihn als kleinen Jungen erscheinen, und Helene blickte ihn jetzt forschend an, seine Augen befanden sich auf ihrer Höhe, sein schmaler Körper war der eines Knaben. Er mochte in Helenes Alter sein. Helene sah ihn einen Augenblick lang wie einen, der zu ihr gehören könnte, aber noch galt seine Aufmerksamkeit ausschließlich Leontine. Es war deutlich, dass Carl Wertheimer zu Leontine aufblickte, nicht nur, weil sie wenige Zentimeter größer zu sein schien als er, vermutlich schätzte er diese ungewöhnliche Frau als Lehrerin, vielleicht war er ein wenig verliebt in sie.
Auf der Bühne gesellten sich weitere Musiker zu den ersten, auch sie spielten Posaune, Klarinette und Trompete. Die Töne wurden verschleppt, der Takt schlingerte und schwang. Zu Helenes Erstaunen begannen immer mehr Menschen um sie her zu tanzen, schon konnte Helene kaum noch den Tanzboden erkennen, das Parkett unter ihren Füßen vibrierte mit der Musik. Fanny und Bernard stürmten voran, Lucinde nahm Bernards Freund an die Hand, selbst Martha und Leontine mengten sich unter die Tanzenden, nur der Baron zog sich zurück. Er bewachte das Tablett mit den zurückgelassenen Gläsern, er stand mit dem Rücken zur Wand und ließ Helene, die noch unschlüssig war, nicht aus den Augen. Eine Hand legte sich sacht auf Helenes Arm. Ob sie tanzen wolle, fragte ein bartloser Mann, er nahm ihr das Glas aus der Hand und zog sie mit sich. Mit einer Hand hielt er Helene fest, als müsse er aufpassen und könne die Musik sie davonlocken, erst tragend, dann schnell, mit der anderen Hand berührte er wie zufällig beim Tanzen ihre nackten Arme. Kein Ding und kein Lebewesen blieb von der Musik verschont, sie ging durch sie hindurch, erfasste jedes Teilchen und wandelte in Bruchstücken der Zeit den Aggregatzustand des Raumes, der eben noch still und starr war, jetzt aber sich in einem Aufruhr befand, wie es Helene schien, der nicht nur jedes Molekül und jedes Organ in Schwingungen versetzte, sondern die Hüllen der Körper wie auch die Grenzen des Raumes strapazierte, ohne sie zu sprengen. Die Musik dehnte sich aus, erfüllte den Raum mit ihrem matten Glanz, einem zarten Glitzern, dem Sprühen feinster Melodien, die kein übliches Maß mehr kannten, sie bog die Körper der Tanzenden, krümmte sie, richtete sie auf, das Schilf im Wind. Einmal legte der Bartlose seine Hand auf ihre
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