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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Hüfte, dass Helene erschrak, aber er wollte sie nur davor bewahren, mit einem tanzenden Paar zusammenzustoßen. Helene hielt Ausschau, sie erkannte Leontines Hals, ihr dunkles kurzes Haar, Helene drängte seitwärts, sie wand sich an den Körpern entlang, die sich ihr zuneigten und abwendeten, sie schlängelte sich durch die Tanzenden, der bartlose Mann folgte ihr mit jedem Schritt, vorbei an Tänzern, unter ihren Armen hindurch, bis Helene Marthas Hand erwischte und Leontines Lachen entdeckte. Der Bartlose ruderte wild mit den Armen, er drohte, er machte Handstand und kam wieder auf die Füße. Helene musste lachen. Sie versuchte, dem Eiern der Musik zu folgen, ihre Schultern und Arme bewegten sich, die Menschen um sie her zappelten, sie wirbelten sich in die Musik, verhedderten sich und traten einander auf die Füße. Die Musik erinnerte Helene ans Schaukeln: Wurde man angestoßen, riss der Schwung alles mit sich und wirkte zielgenau und stark, doch schon im folgenden Takt begann das Straucheln. Ließ man sich baumeln und streckte die Beine mal in die eine, dann in die andere Richtung, so begann ein Taumeln und ein Trudeln, ein elliptisches, mit einer eingeschriebenen Konsequenz sich verringernder Kreise. Marthas Kopf wackelte bedenklich, ihr Haar löste sich, wie eine Ertrinkende warf Martha ihre Arme in Leontines Richtung. Helene sah ihre glasigen Augen, den nachtverschleierten Blick, der keinen mehr traf und niemanden erkennen konnte. Sie winkte Martha zu, aber Martha stützte sich jetzt auf Leontine und ein trunkenes, etwas dümmliches Lächeln quoll aus ihrem Gesicht. Wieder stieß die Trompete vor, gab Anstoß und die Tanzenden gerieten ins Schwitzen und die nackten Arme und Schultern der Frauen glänzten im schmalen Lichtschein der kleinen Lampen. Im nächsten Augenblick konnte Helene das Veilchenblau von Leontines Kleid nicht mehr sehen, und Mar thas rührseliges Lächeln war verschwunden, ein neuer Rhythmus setzte ein, Helene schaute sich um, konnte aber weder Leontine noch Martha entdecken. Derweil erblickte sie den Rücken ihres bartlosen Tanzpartners vor sich, der nun mit einer anderen jungen Frau tanzte.
    Helene fand sich allein inmitten der aufgebrachten Menge. Die Musik umfing sie, nahm Besitz, wollte herein in sie und zugleich hinaus, Helene stieß Arme und Beine von sich. Eine Angst ermächtigte sich Helenes Körper, Helene kannte keine der Bewegungen, noch wusste sie, wo sich der Boden befand. Selbst wenn der Boden nachgab, ihre Füße landeten und hoben sich von ihm, man befand sich in gegenseitiger Abhängigkeit. Helene wollte an den Rand gelangen, dorthin, wo sie den Baron vermutete, auch wenn sie seinen Hut nicht entdecken konnte und auch sonst keinen der ihrigen sah, aber die Tanzenden stießen sie immer wieder in ihre Mitte und ihre Beine hörten nicht auf, dem Rhythmus zu folgen. Nirgends war ein Verschwinden möglicher als inmitten dieser tanzenden Menschen. Helene gab sich hin; ihre Füße wurden von den Tönen der Klarinette gejagt, schon holte der Takt sie ein, mit den Armen stieß sie Löcher in die Luft.
    Eine Hand griff nach ihr, sie kannte den Mann nicht. Sein Gesicht war weiß geschminkt, die Lippen fast schwarz, und Helene tanzte. Mit jedem Tanz änderte ihr Gegenüber Gesicht und Gestalt. Bald tauchten Leontine und Martha wieder auf, Martha lachte ihr beim Tanzen zu, vielleicht, vielleicht galt das Lachen ihrer Himmelsrichtung, den Tönen, dem Verschwinden, aber Helene suchte nicht länger ihre Nähe. Es gab einen Blick, der Helene seit geraumer Zeit verfolgte, aus dem Dunkel neben der Bühne, von einem der kleinen Tische mit den grünen Lämpchen her. Helene erkannte Carl Wertheimer und war froh, dass er sie endlich entdeckt hatte. Vielleicht war er bloß neugierig, mit welchen Freunden sich Leontine umgab. Sein Blick war kein lästiger, er war aufmerksam. Carl Wertheimer trug noch seinen Mantel, der glatte Pelzkragen schimmerte, vielleicht war er im Aufbruch begriffen. Er rauchte eine kurze schlanke Pfeife. Immer wieder glitt sein Blick zu den anderen Tanzenden, zu Leontine, und wieder zurück zu Helene. Trotz der Jugend waren seine Züge ernst, würdevoll, musste Helene denken.
    Die Klarinette rief, Helene sprang, die Posaune schob und Helene lehnte sich zurück, die Trompete lockte, Helene sträubte sich, noch.
    Bald darauf knickte Helene mit dem Fuß um, sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Damit sie nicht fiel, packte sie Marthas Schulter und stützte sich. Martha

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