Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
musste sie verwechselt haben, ohne genau auf sie zu achten, entfernte Martha Helenes Hand mit einer groben Geste. Das Riemchen von Helenes Schuh war gerissen, ihr blieb nichts anderes, sie nahm den Schuh in die Hand und drängelte sich zwischen den Tanzenden und ihrem süßsauren Geruch hindurch. An der Bühnenbrüstung hielt sie sich links. Kaum war sie der dunstigen Wärme der Tänzer und ihren hitzigen Fängen entkommen, zog es kühl aus der Dunkelheit. Gab es Fenster? Fenster gab es keine. Womöglich hatte jemand die Tür zum Lüften geöffnet. Helene blickte über die Köpfe hinweg, weit hinten im Dunkel des Raumes erkannte sie Fannys weißes Gesicht. Vom Hut des Barons war glücklicherweise weit und breit nichts zu sehen. Was trinken? Jemand rempelte sie an, Helene dankte flüchtig und eilte weiter. Ihr Weg führte vorbei an nachterschöpften Gestalten und morgenblassen Gesichtern. Ein Frösteln zog über ihren Rücken und unversehens blickte sie jenem Mann mit den hageren Gesichtszügen in die Augen.
Verzeihen Sie, sagte er, Sie sind eine Freundin von Leontine. Seine Stimme war erstaunlich tief für seine Jugend. Ihr Blick fiel auf seinen Pelzkragen. Das Schimmern war so schön, dass sie am liebsten den Pelz berührt hätte.
Helene nickte, gewiss kannte er ihren Namen nicht. Also sagte sie: Helene, Helene Würsich.
Wertheimer, Carl. Fräulein Leontine war so freundlich, mich zu Beginn des Abends vorzustellen.
Der Student.
Er nickte und bot ihr seinen Arm. Benötigen Sie Hilfe?
Und wie, mein Schuh ist hinüber. Helene hielt ihm zum Beweis den Schuh entgegen. Ihr fiel Martha ein, ängstlich schaute sie sich um und entdeckte ihre Schwester unter den Tanzenden, sie schlang ihre Arme um Leontine, es fehlte nicht viel und Martha würde Leontine vor aller Augen küssen. Ein leichtes Unwohlsein, ein zarter Ekel überkam Helene, es war mehr die Furcht vor dem Entdecken des Fremden, der Entblößung jenes Geflechts, zu dem sie als Schwester und Mitwisserin gehörte, als das schwache Gefühl des Ausgeschlossenseins. Rasch wollte Helene Wertheimers Aufmerksamkeit ablenken.
Ihr kennt Doktor Leontine schon lang?
Unsere Tante hat uns eingeladen, ihr Freundeskreis ist groß. Helene machte eine unbestimmte Geste. Ich fürchte, ich muss jetzt gehen.
Gewiss. Darf ich Sie begleiten? Es wäre nicht gut, wenn Sie allein durch die leeren Straßen hinken.
Gern. Weder Asche noch Tauben haben mir Anmut geschenkt, sagte sie und merkte, dass ihre Ohren glühten, mit dem Wort Anmut meinte sie wohl so etwas wie jungfräuliche Geduld.
Helene verabschiedete sich von ihrer Tante. Fanny würdigte den jungen Studenten Wertheimer keines Blickes, sie versicherte Helene, dass Otta zu Hause die Tür öffnen werde.
Draußen war es hell geworden. Die Vögel schilpten nur noch leise dem längst angebrochenen Sommertag entgegen und die Laternen waren erloschen. Eine Droschke wartete auf Kundschaft. Offenbar mussten die ersten Menschen zur Arbeit gehen. An der Ecke stand ein Zeitungsverkäufer, er bot die Morgenpost und den Querschnitt an.
Der Querschnitt am frühen Morgen auf der Straße, Carl schüttelte lächelnd den Kopf.
Helene genoss die Begegnung mit Wertheimer, und während sie einander erste Fragen nach ihrem Leben stellten, verschwieg sie ihm, wie nah sie wohnte. Ein Fuß im Schuh, den anderen auf dem Pflaster spürte Helene das Kleben der Straße, die Linden hatten über Nacht ihren Nektar tropfen lassen.
Komm, wir wollen uns näher verbergen ..., Wertheimer sah Helene forschend an.
Das Leben liegt in aller Herzen. Helene sagte es nebenher, als ginge es sie nichts an.
Wie in Särgen. Wertheimer frohlockte, doch Helene antwortete nicht mehr, sie zog es vor zu lächeln. Was ist, wollen Sie nicht weiter?
Ich habe vergessen, wie es geht.
Das glaube ich nicht. In seinen Blick trat Befremden, sie besänftigte ihn.
Sie sagen es so fröhlich, das Weltende ist ein trauriges Gedicht, meinen Sie nicht?
Traurig nennen Sie das? Es ist optimistisch, Helene! Was ist verheißungsvollerer als die Hingabe, der Kuss, eine Sehnsucht, die uns umfängt und sterben lässt.
Glauben Sie, sie denkt an Gott?
Keineswegs, das Göttliche ist ihr näher. Wie anders beginnt ihr Gedicht, als mit mehrfachem Zweifel, sie spricht vom Weinen, als ob der liebe Gott gestorben wär. Aber glaubte sie an Gott, würde sie ihm die Unsterblichkeit zugestehen, als ob ist eine doppelte Ablehnung des Glaubens, sie glaubt nicht an den lieben, so wenig wie an den
Weitere Kostenlose Bücher