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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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bösen oder irgendeinen. Gottes Sterben sollte ein Weinen in der Welt verursachen, die Welt weinen wegen ihm oder weinen, weil sie ihn los ist?
    Helene sah Wertheimer an, sie durfte nicht vergessen, die Lippen zu schließen. Hatte nicht Martha immer zu ihr gesagt, sie solle den Mund zumachen, sonst flögen Fliegen hinein? Noch nie hatte sie einen Menschen über ein Gedicht sprechen hören.
    Gehörte das Gedicht nicht ihr, ihr allein? Eifer entfachte, Helene sprach drauflos, um ihr Gedicht mehr als um ihr Leben, aber das ließ sich gegenüber einem Wertheimer nicht mehr scharf trennen.
    Lasker-Schüler delektiert sich nicht an Gott, sie erfreut sich auch nicht an den Menschen und ihrem Leid, dem sie gehorchen, nur gönnt sie ihnen einen Kuss vor dem Vergängnis. Glauben Sie mir, die eigene Sterblichkeit, der sie ins Auge blickt, ob an der Sehnsucht und begleitet von einem Weinen oder nicht, diese menschliche Sterblichkeit, ihre Einsicht, die Unausweichlichkeit, die steht doch deutlich der Unsterblichkeit Gottes gegenüber.
    Lesen Sie Gedichte immer von hinten?
    Nur wenn jemand kommt, der auf Linearität besteht.
    Der junge Mann wollte die Straßenbahn oder einen Autobus nehmen und bog um die Ecke.
    Und Sie benutzen gern lateinische Begriffe, delektieren sich, unterstellen mir Linearität!? Ich verlasse die Gerade gern und werde gewiss auf gar nichts bestehen, Ihnen gegenüber nicht. Wertheimer gab seinen Worten Strenge, im nächsten Augenblick leuchtete Schalk aus seinen Augen. Wie steht es mit dem Müll von Kultur und Wissenschaft? Sagen Sie, halten Sie nicht unsere ganzen Bemühungen für verwerfliche Anmaßung? Hat der Club, in dem jeder Vorsitzender sein darf, nicht den größten Zulauf? Ist Dada ein Papierkorb für die Kunst?
    Helene überlegte. Was sollte schlecht an Unterschieden sein, sagen Sie mir das? Es war eine aufrichtige Frage, schließlich, so dachte Helene, wen störten all die Clubs, solange jeder gründen und beitreten konnte, sooft er nur wollte.
    Am Kurfürstendamm ließen sie die erste Straßenbahn durchfahren, sie war voll besetzt, allein die Mutigen schwangen sich auf und ihr Gespräch ließ keine Pause zu, fand keine Unterbrechung für ein bisschen Mut, noch für den Kuss.
    Sie kennen den Lenz von Büchner, woran leidet er, Helene?
    Helene sah, mit welcher Neugier Carl auf ihre Antwort lauerte, sie zögerte. An dem Unterschied. Das meinen Sie? Aber nicht jeder Unterschied verursacht Leid.
    Nein? Carl Wertheimer schien plötzlich zu wissen, worauf er hinauswollte. Er wartete nicht mehr auf ihre Antwort. Sie sind eine Frau, ich ein Mann – glauben Sie, das bringt Glück?
    Helene musste lachen, sie zuckte mit den Achseln. Was sonst, Herr Wertheimer?
    Selbstverständlich, werden Sie sagen, Helene. Zumindest hoffe ich das. Das sei Ihnen zugestanden. Aber nur, weil Glück und Leid sich nicht ausschließen. Im Gegenteil, Leid schließt die Vorstellung von Glück in sich ein, birgt es gewissermaßen. Die Vorstellung vom Glück kann im Leid niemals verloren gehen.
    Nur sind die Vorstellung vom Glück und das Glück selbst ja verschiedene Dinge. Helene spürte ihre Langsamkeit, sie hinkte, nur kurz bemerkte sie, wie weh ihre Füße taten. Lenz hat doch alles, seine Wolken sind rosa, der Himmel leuchtet – all das, wovon andere bloß träumen.
    Helene und Carl bestiegen einen Autobus gen Osten, sie nahmen an Deck Platz, der Fahrtwind wehte ihnen entgegen, und damit Helene nicht fror, legte Carl seinen Mantel um ihre Schultern.
    Aber das lässt Büchners Lenz leiden, warf Carl ein. Was sind ihm die Wolken, was das Gebirg, wenn er Oberlin nicht gewinnt.
    Gewinnt? Helene glaubte eine Unschärfe in Carls Gedanken zu entdecken, ihre Aufmerksamkeit ließ sie schwer darüber hinweghören. Carl mochte ihre Nachfrage falsch verstanden haben.
    Was führt euch Schwestern nach Berlin, ein Besuch bei der Tante?
    Helene nickte entschlossen. Ein Besuch auf lange Zeit, wir sind gute drei Jahre hier. Helene schmiegte ihr Kinn an den Pelzkragen seines Mantels. Wie glatt der war, wie gut der duftete, ein Pelzkragen im Sommer. Martha arbeitet im Jüdischen Krankenhaus. Ich bin auch Krankenschwester geworden und habe meine Prüfung noch in Bautzen abgelegt, aber hier in Berlin ist es nicht leicht für eine Schwester, wenn sie so jung ist und keine Referenzen hat. Helenes Füße brannten. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie Geburtstag hatte und dass sie einen Gymnasialkurs für Mädchen beginnen würde, dass

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