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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Helene. Das ist der teure Rat für jeden jungen Mann. Teuer, weil wir dafür jahrelang studieren und erst wenn wir jahrelang studiert haben, wissen wir einen Funken von der Glückseligkeit. Carl biss sich auf die Zunge. Er wollte etwas darüber sagen, wie wichtig es dabei wäre, ein Mädchen neben sich im Bett zu wissen, eine Frau, nicht nur eine, sondern diese, seine Helene. Aber er fürchtete, eine solche Bemerkung könnte sie verscheuchen. Er wollte nicht, dass sie zurück in ihre nasskalten Strümpfe und Schuhe schlüpfte und durch die Nacht in die Achenbachstraße lief, sich dort in ein Bett neben ihrer Schwes ter legte. Also blätterte er zurück, dorthin, wo sein Zeigefinger die Seiten auseinandergehalten hatte, und las.
    Die Begierde, die aus der Erkenntnis des Guten und Schlechten entspringt, kann durch viele andere Begierden erstickt oder eingeschränkt werden, die aus Affekten, welche uns bestürmen, entspringen. Carls Finger ließen die ganze Seite zittern.
    Frierst du jetzt? Helene schob ihre Hand neben seine, ihre kleinen Finger berührten sich fast.
    Die Vernunft kann die Leidenschaften überwinden, indem sie selbst zur Leidenschaft wird.
    Helene hörte es und sagte: Du hast schöne Augen.
    Beweis. Der Affekt gegenüber einem Ding, das wir uns als zu künftig vorstellen, ist schwächer als der gegen ein gegenwärtiges.
    Sprichst du von uns, sprichst du von Liebe? Helene berührte jetzt mit ihrem Finger seinen und bemerkte, wie er zuckte. Er war so gefangen, dass er nicht einmal den Blick wendete, um sie anzusehen.
    Du wolltest, dass ich vorlese, und ich lese vor. Liebe ist bei Spinoza nichts anderes als Fröhlichkeit, Fröhlichkeit verbunden mit der Vorstellung ihrer äußeren Ursache.
    Deine Augen glühen. Ich könnte den ganzen Abend neben dir liegen und einfach dein Kinn ansehen, dein Profil, die Nase, wie sich die Lider über deine Augen senken. Helene zog ihre Knie an, da war noch die Decke zwischen ihr und Carl.
    Carl wollte ihr etwas von der Begierde im Verhältnis zur Liebe und beider Verhältnis zur Vernunft erklären, aber er hatte die Logik vergessen, etwas anderes hatte Besitz von ihm ergriffen, etwas, das nicht mehr in sich ruhen, nicht mehr Gegenstand des Denkens sein konnte, nur über sich hinaus, aus sich heraus wollte er, zu ihr. Worte flogen vorüber, die Süße ihres Mundes. Er vermochte kein Denken, sein Wille war abhanden gekommen, es gab keine Zähmung mehr. Er fühlte sich nackt. Die Berührung mit der Decke, die ihn von ihr trennte, erregte ihn maßlos. Mit reiner Begierde sah er Helene an und küsste sie. Er küsste ihren Mund, ihre Wangen, ihre Augen, seine Lippen spürten die glatte Haut ihrer gewölbten Stirn, die Hand ihr seidiges Haar, durch die schmale Öffnung seiner Augen fiel Gold, der Lichtschein ihres Haars. Seine Hand ertastete ihr Schlüsselbein, die Wölbung ihrer Schulter, seine Fingerspitze fühlte ihre Grübchen, die er vom Sehen gut kannte. Ihre Arme schienen endlos lang, ihre Achselhöhle war feucht, er krümmte seine Hand in ihr, er schmiegte sich. Er hörte sein Keuchen an ihr. Helenes Duft lockte ihn, dass es wehtat. Ihre Arme verschränkten sich vor ihren Brüsten, er musste tief atmen, er sah die Zeit vor sich, wie sie sich entrollte, er mit ihr Ruhe gewinnen konnte, wenn er nur wollte, nur wollte, aber wo war er nur, der Wille. Vernunft, rief er still zu sich, er sah das Wort vor seinem Auge, schlicht, er kannte seine Bedeutung nicht mehr. Nichts als Buchstaben, ihr Laut fehlte. Klang und Bedeutung auf und davon. Doch sein Keuchen fing sich zwischen seinen Lippen und ihren Wölbungen und Höhlen und trug ihren Atem in sein Ohr.
    Die Kerze knisterte, der Docht bog sich und versank. Die Dunkelheit kühlte angenehm. Carl starrte in das Dunkel. Helenes Atem war gleichmäßig, ihre Augen wohl geschlossen. Er fand kaum in den Schlaf, ihr Geruch hielt ihn wach und weckte ihn, wenn er für Sekunden träumte. Sie atmete kürzer als er, vielleicht schlief sie nicht. Er streckte seine Hand nach ihr aus.
    Sie mochte seinen sanften Mund, die Lippen, die anders forderten als Marthas, und den Geschmack, der ihr neu war.
    Es ist schön, wenn dein Haar länger wird, flüsterte Carl in die Stille. Warum war es so kurz?
    Um dich kennenzulernen. Weißt du das gar nicht? Es war lang bis hier, wenige Stunden bevor ich dich das erste Mal gesehen habe. Leontine hat es mir abgeschnitten.
    Carl verbarg sein Gesicht an ihrem Hals, mit dem Flügelschlag seiner Augen strich er ihr

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