Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
streute die Glasperlen ins Publikum, sie tat, als wolle sie die Bühne verlassen, aber die Männer pfiffen, ob aus Wut oder Freude, sie blieb. Die Leute brüllten, sie trampelten, ein Mann im Parkett warf mit Münzen um sich.
Helene hielt sich die Ohren zu. Sie war nicht aufgestanden, als einzige wohl weit und breit, sie beugte sich vornüber, das Kinn auf der Brust, das Gesicht ihrem Schoß entgegen und wollte am liebsten in ihrem Sessel verschwinden. Sie wäre gern gegangen. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie den Saal verlassen konnten. Die Menschen verstopften die Ausgänge, blieben stehen, klatschten, liefen rückwärts, schoben sich und drängelten. Es war stickig geworden, Helene schwitzte. Der Aufruhr ängstigte sie. Jemand boxte ihre Schulter, es sollte wohl einem jungen Mann gelten, der rechtzeitig ausgewichen war. Helene ließ Carls Hand nicht los, Menschen drängten sich zwischen sie, immer wieder drohten sie auseinandergerissen zu werden. Helene war übel. Raus, dachte sie, nur raus.
Carl wollte die Friedrichstraße entlanggehen und unter die Linden. Das Wasser im Kanal war schwarz, oben fuhr eine S-Bahn vorüber. Helene beugte sich auf der Brücke über die steinerne Balustrade und erbrach sich.
Dir hat es nicht gefallen. Er fragte es nicht, er stellte es fest.
Du bist ja ganz verliebt.
Ich bin begeistert. Ja.
Helene suchte nach ihrem Taschentuch, sie fand es nicht. Der säuerliche Geschmack im Mund ließ die Übelkeit nicht vergehen. Ihr war ein wenig schwindelig, und so hielt sie sich am Stein der Balustrade fest.
Ist das nicht der Aufbruch, die wahre Moderne? Wir sind alle Teil des Ganzen, die Grenzen zwischen Wesen und Darstellung werden brüchig. Das Sein und sein Schein, sie nähern sich an. Die Menschen haben Hunger, hast du das nicht bemerkt, sie dursten nach der Welt, die sie selbst bestimmen.
Was redest du? Welche Welt bestimmen sie? Du sprichst von Begeisterung, der Pöbel brüllt. Mich ängstigt das, die gnadenlose Selbstherrlichkeit in allen Schichten. Helene musste aufstoßen, ihr Schwindel bäumte sich, auf und nieder, die Übelkeit, sie wandte Carl den Rücken zu und krümmte sich wieder. Wie schön rau und fest der Sandstein war.
Carl legte ihr jetzt seine Hand auf den Rücken. Liebe, bist du krank? Meinst du, die Königsberger Klopse waren schlecht?
Helene hing mit dem Gesicht gen Wasser und stellte sich vor, dort hineinzuspringen. Aus ihrem Mund zogen Fäden, ihre Nase lief, ihr Taschentuch fehlte.
Er konnte ja nicht wissen, dass ihr ein Taschentuch fehlte, bloß ein Taschentuch, um sich wieder aufzurichten. Also musste sie ihn fragen: Hast du ein Taschentuch?
Natürlich habe ich eins, hier. Komm, lass dir helfen. Carl sorgte sich um sie, aber Helene wurde wütend.
Wie kannst du so einfältig sein, wie das Begeisterung nennen? Du liest Schopenhauer und Spinoza und wirfst dich an so einem Abend in die Menge, als gäbe es kein Morgen, kein Ges tern, einfach gar nichts als das große Bad des kleinen Mannes.
Was hast du gegen den kleinen Mann?
Nichts. Helene bemerkte, wie sie die Lippen aufeinanderpresste. Ich achte ihn. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie selbst eine kleine Frau war. Aber was nützte das? Also sagte sie: Der Kleine ist der Kleine nicht, der Große nicht der Große. Vielleicht muss man wie du aus großbürgerlichen Verhältnissen kommen, um sich auf diese Weise am kleinen Mann zu erfreuen. Öffne deine Augen, Carl.
Carl umarmte sie jetzt. Lass uns nicht streiten, bat er.
Warum nicht, fragte Helene leise, ihr war ein Streit lieber als die ihr offenbare Entgeisterung Carls als Begeisterung anzuerkennen. Das Stück war eine einzige Aneinanderreihung von Gassenhauern.
Carl hielt Helene beschwichtigend seine Hand auf den Mund. Psch, psch, sagte er, als weine sie und wolle er sie trösten. Ich könnte es nicht ertragen, wenn wir uns entzweien.
Das werden wir nicht. Helene strich den Kragen seines Mantels glatt.
Ich liebe dich. Carl wollte Helene küssen, aber sie schämte sich für ihren sauren Mund. Sie neigte ihren Kopf zur Seite.
Wende dich nicht ab, Liebe. Ich habe nur dich.
Helene musste plötzlich lachen. Ich wende mich doch nicht ab, lachte sie. Wie kannst du das denken? Ich habe mich übergeben, mir ist schlecht, und ich bin müde. Lass uns nach Hause gehen.
Dir ist schlecht, wir nehmen ein Taxi.
Nein, lass uns gehen, ich brauche Luft.
Sie gingen lange durch die Nacht und schwiegen ebenso lang. Die schmalen Holzbrücken im
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