Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Wohnungstür ins Schloss. Helene traute sich nicht, Carl anzusehen. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Carl rauchte und saß da, seine schmale Gestalt sah im Gegenlicht wie die eines alten Männleins aus. Er war es nicht gewohnt, mitten im Gespräch verlassen zu werden. Helene verschränkte die Arme. Sie überlegte, was sie Aufmunterndes zu ihm sagen könnte, zugleich spürte sie, dass sie ihn nicht aufmuntern wollte. Er hatte ihren Einwurf vorhin schlicht überhört, vermutlich hatte er ihr nicht einmal absichtlich das Gehör verwehrt.
Um sechs könnten wir Pat und Patachon sehen, das schaffen wir noch. Helene sagte es fast beiläufig, sie war jetzt ebenfalls zur Tür gegangen und hoffte, dass er endlich aufstehen und ihr folgen würde.
Leontine hat die Kränkung angesprochen, Carl sprach jetzt langsam und blieb im Satz hängen. Sein Blick ruhte auf dem Stuhl, auf dem Leontine zuvor gesessen hatte. Es fiel ihm schwer, mit dem Verlust seines Gegenübers zu denken. Sie hat den Wunsch genannt, den Wunsch nach Helden, zumindest Heldentum. Ich halte es nicht mit dem Heldentum eines Arthur Trebitsch. Es gibt weder die Erlösung einer nordischen Rasse noch die jüdische Weltverschwörung. Tragisch ist, dass mit der Beendigung eines persönlichen Leids, sagen wir durch den Tod, bestimmte Ideen niemals, und vielleicht sogar keine einzige jemals, verloren gehen. Sie entwickeln sich außerhalb des Einzelnen, der an ihnen auf die winzige Lebenszeit hin gedacht hat, weiter. Der Urheber lässt sich nicht feststellen, weil dieses Gebräu menschlichen Geistes, vom Leid geprägt und befruchtet, im Zweifel an sich selbst, keinen Beginn und kein Ende besitzt. Diese Uferlosigkeit macht mich ganz schwach. Es gibt keinen Saum der Menschheit. Der Mensch vertreibt Gott von seiner Erde. Und ab in die Glutenkiste.
Carl hatte für sich gesprochen und zur längst verschwundenen Leontine. Erschöpft ließ er jetzt seine Hände auf die Schenkel fallen.
Wie wäre es mit dem Zirkus von Chaplin? Helene verschränkte die Arme, sie lehnte sich gegen den Türrahmen.
Carl sah erstaunt hinüber zu ihr. Er brauchte einen Augenblick, ehe er antworten konnte. Kino, sagte er schroff, gehen wir ins Kino, jetzt nüchtern. Gibt es nicht diese Boxfilme? Alle Welt dreht Boxfilme, wir sollten uns einen ansehen. Combat de Boxe, das ist die junge Avantgarde Belgiens, mit einem Regisseur, der einen schier unaussprechlichen Namen hat, Dekeukeleire. Schon der Name reicht für einen Film, nicht? Oder dieser Engländer, sein Film heißt The Ring – die hiesigen Kinobetreiber haben daraus den Weltmeister gemacht. Ist das nicht lustig? Carl versuchte, sich selbst von der Lustigkeit seiner Bemerkung zu überzeugen.
Ein Film über das Boxen? Helene war nicht überzeugt, aber sie wollte alles tun, damit Carl endlich von diesem Stuhl aufstand und mit hinauskam.
Die Straße schimmerte dunkelgrau, zwischen den Häusern hing kalte Feuchtigkeit. Die Laternen brannten schon, und an den Ecken wurden die Abendzeitungen verkauft.
Warst du in Leontine verliebt?
In Leontine? Carl grub seine Hände in die Manteltaschen. Gut, ich gebe es zu. Er sah Helene nicht an, und sie wollte nicht weiter fragen, was er damit meinte.
Helene war die letzten Meter zur Charité gerannt. Sie hatte ihre Schule an diesem Abend ausfallen lassen, in den letzten Wochen ging es dort nur um die möglichen Fragen im Abitur. Es war Ostern, der Apotheker hatte ihr für den Rest der Woche freigegeben. Ihr kleiner Koffer war ochsenblutrot und leicht, sie hatte ihn vor wenigen Tagen erstanden und nicht viel eingepackt. Helene atmete noch heftig, als sie gegen die Zimmertür von Frau Doktor klopfte. Leontine öffnete ihr, sie küssten sich über die Schulter.
Du bist dir sicher?
Ja. Helene zog ihren Mantel aus. Ziemlich. Mir ist nicht übel, gar nichts, nur auf die Blase drückt es nachts.
Wie lange ist die letzte Periode her?
Helene wurde rot. So häufig sie im Krankenhaus während ihrer Ausbildung bettlägerigen Frauen die Binden gewechselt hatte, so genau sie sich an das Waschen von Marthas kleiner Wäsche erinnern konnte, sie hatte noch nie über ihre Periode gesprochen. Und nun galt diese erste Frage danach sogleich ihrer letzten.
Neunundzwanzigster Januar.
Sie könnte sich verzögert haben. Leontine blickte Helene fragend an, kein Vorwurf, kein Richten.
Das habe ich auch gehofft.
Ich werde keine von Aschheims Mäusen holen müssen? Leontine arbeitete Schulter an Schulter mit
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