Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Dings. Denn ein Affekt ohne Ursache und Ding, dem es anhängt, das könne er sich nicht vorstellen. Carl stopfte seine kleine Pfeife nach und zündete sie an. Seine neue Hornbrille verschwand im Qualm, noch fehlte ihm beim Rauchen die Eleganz eines Alten. Wenn er sprach, sprach er in anregenden Gesprächen wie diesen so schnell, dass er einzelne Worte verschluckte und man sie sich denken musste, um zu erfassen, was er genau gesagt hatte. Nur wie könnte ein Ding ohne seinen Betrachter noch dinghaft sein? Auch das Ding besitzt ein Aussehen, eine Konsistenz und Temperatur; nicht zuletzt eine Funktion.
Leontine warf einen Blick auf Helene, die sich auf der Chaiselongue ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte.
Vermutlich ist genau das die Herausforderung meiner Zunft, die Trennung. Allein die Sezierung des Körpers trennt einzelne Teile aus einem Ganzen. Wir können sie ansehen, die Leber und ihre Geschwulst. Wir können die Geschwulst von der Leber und die Leber vom Körper trennen.
Aber nicht vom Menschen, und es wird immer die Leber dieses Menschen bleiben. Die örtliche Entfernung und die funktionale Durchbrechung ihrer Symbiose beraubt weder die Leber des Menschen noch den Menschen seiner Leber.
Nehmen wir ein Bein. Carl war noch nicht sicher, ob sich sein Gedanke Leontines anschließen oder widersetzen würde. Wievielen unserer Väter fehlt eines der äußeren Gliedmaßen. Sie leben ohne ihren Arm, ohne ihren Finger.
Martha stöhnte demonstrativ, ihr wurde das Gespräch zwischen Leontine und Carl zu lang, es war Leontine und ihr seit einiger Zeit zum ersten Mal gelungen, gleichzeitig einen freien Tag zu haben; mitten in der Woche wollten sie einen Ausflug machen und ein befreundetes Paar in Friedenau besuchen. Martha legte jetzt ihren Arm um Leontines Hals und drosselte sie damit.
Wenn ihr euch nicht trennen könnt, haben unsere Gastgeber den Kuchen verspeist, ehe wir dort eintreffen.
Leontine löste Marthas Arm von ihrem Hals. Allein das Wort Erkenntnis unterliegt einer gewissen Wesenswandlung. Die Hülle bleibt bestehen, aber was gestern noch die Erkenntnis Gottes und seiner Allmacht war, ist heute der Schnitt in die Geschwulst.
Carl rauchte, er hielt seinen Kopf steif, es lag ihm viel an seiner Haltung, daran, den Kopf noch nicht zu schütteln, ehe er seinen Gedanken klar vermessen und die richtigen Worte für den Widerspruch gefunden hatte.
Leontine nutzte indessen die Gelegenheit, ihren Affront auszuweiten. Carl, es ist nicht allein die Medizin, die der Erkenntnis so viele neue Attribute hinzugefügt hat, dass wir nicht mehr vom selben Charakter sprechen können. Ein Blick in den Himmel, die Technik der Flugzeuge, die Vernichtungen durch Gas bei Kriegsende, das alles spricht gegen Gott.
Nein, Carl senkte den Kopf, nein, das ist die falsche Herangehensweise, Technik und Wissenschaft sind unmittelbare Kinder der göttlichen Erkenntnis. Es ist nur konsequent, dass der Mensch sich nicht dem Licht allein entzieht, dem Licht der Erkenntnis. Das lässt sich nicht trennen. Der Mensch zieht Lehren. Ob deshalb Gebete zu einem Gott etwas nützen, das weiß ich auch nicht. Ich wollte Gott keine menschlichen Züge verleihen, er spricht nicht, wie es heilige Schriften vorschlagen, er richtet nicht. Jegliche moralische Kapazität, alles Menschliche würde ich Gott absprechen. Gott lässt sich besser als Prinzip beschreiben, er ist das weltliche Prinzip. Der Glaube an ihn als die Metamorphose einer Person ist allein den Affekten des Menschen anzulasten. Carl zog an seiner Pfeife.
Die Katastrophen verursacht heute der Mensch, schau dir den Krieg und seine Helden an. Konnten wir uns von ihm erholen? Und was war schlimmer, die materielle Einbuße, der Verlust von Menschenleben oder die Kränkung? Leontine stand auf, sie ging zu dem großen Samowar, der als einziger Gegenstand noch auf der langgestreckten Konsole stand, und drehte den Hahn auf. Die Helden des Krieges waren andere. Das Wasser war zu heiß, sie hielt das kleine Glas nur an die Lippen, ohne trinken zu können. Sie sprach über den Rand des heißen Glases hinweg: Keine zehn Jahre später und schau, wie die Menschen seit Tagen an den Kiosken lauern und ihrem Händler die Vossische aus der Hand reißen. Wenn sie sich auf Remarque stürzen und seine Kriegsschilderungen aufsaugen, betrachten sie ihr eigenes Machwerk. Wir sind uns selbst genug.
Eben nicht, wären sie sich selbst genug, so hätten sie keinen Hunger, weder geistigen noch physischen. Carls
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