Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Stimme verlor ihre Leichtigkeit, seine sonst einfach schnell gesprochenen Worte wurden nur noch halb ausgesprochen. Ich möchte mich korrigieren, ich möchte nicht behaupten, dass wir dem Menschen und seinen Affekten auch nur das Geringste anlasten sollten. Eher sollten wir nach dem göttlichen Prinzip schielen, das meiner Ansicht nach wie gesagt kein moralisches ist. Hören wir auf, den Menschen auf sein Gutes und Schlechtes zu belauern, haben wir Mitgefühl mit dem Sein des Menschen.
Du bist verrückt, Helene sagte es freundlich und unbestimmt, sie war sich dieser Annahme keineswegs sicher, sie richtete sich auf, streckte sich auf ihrer Chaiselongue und machte einen Katzenbuckel. Dann breitete sie ihre Arme aus und ächzte befreiend.
Für mich als Ärztin ist das Maß von Mitgefühl entscheidend. Ich möchte dem Menschen helfen, dass er lebt, möglichst gesund. Der Schmerz ist schlecht, also belauere ich den Menschen, ich untersuche die Ursache des Schmerzes, ich will sie beheben. Leontine trank einen kleinen Schluck vom schwarzen Tee und setzte sich wieder. Sie fuhr sich mit der Hand durch das kurze schwarze Haar. Sie rückte vor, saß am Rande des Polsters und stellte ihre Beine in der Weise nach außen, wie sie es schon als junges Mädchen getan hatte. Es war ein Rätsel, wo sie diesen grob gewebten Hosenrock aufgetrieben hatte, er erinnerte an die Jupe-Culotte, die Helene nur noch aus alten Modezeitschriften kannte. Leontine stützte den einen ausgestreckten Arm auf ihr Knie und mit dem anderen hielt sie, angewinkelt, den Ellenbogen nach außen zeigend, das Teeglas. Eine Herausforderung lag in ihrem Sitzen, eine Haltung, die Helene heute so aufregend wie früher, aber zum erstenmal unweiblich erschien.
Helene stellte ihre Füße auf den Boden und bückte sich auf der Suche nach ihren Schuhen. Carl, sagte Helene, insbesondere wenn du die Moral für ein Kennzeichen des Menschen hältst, sollten wir dieses ursprünglich menschliche Maß nicht verachten.
Ich verachte es nicht, ich schlage lediglich vor, es zu missachten.
Den Kopf zum besseren Sehen auf den Boden gelegt, langte Helene mit dem Arm tief unter die Chaiselongue. Ihr Gesicht war von Anstrengung verzerrt, sie blickte hinauf zu Carl: Lass uns lieber noch ins Kino gehen. Morgen arbeite ich bis sechs und die Schule geht bis zehn. Helene hatte ihre Stiefel gefunden, zog sie an und schnürte sie zu. Der November machte die Stadt grau, man musste sich warm anziehen und möglichst mehrmals in der Woche ins Theater oder Kino gehen, um die Farb losigkeit der Tage zu erdulden. Carl blieb auf seinem Stuhl sitzen und rauchte weiter. Es war unklar, ob er überhaupt gehört hatte, dass Helene ihm einen Vorschlag gemacht hatte.
Ich bewundere Sie, Leontine, deshalb lassen Sie mich Ihnen noch etwas erwidern. Meines Erachtens ist der Schmerz der einzige Zustand, den wir nicht mit den gewöhnlichen Affekten gleichsetzen dürfen. Der Schmerz ist es, der den Menschen dazu veranlasst, sich eine Zukunft vorzustellen, und sei es die Utopie, das Paradies. Wenn Sie als Ärztin das Leid des Menschen verringern, ist das gut für den Einzelnen, aber schlecht für Gott. Das Prinzip Gott baut auf den Schmerz. Erst wenn der Schmerz in der Welt ausgelöscht wäre, könnten wir von der Vernichtung Gottes sprechen.
Was ist, wollen wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in Friedenau ankommen? Martha stand schon in der Zimmertür und hoffte, dass Leontine sich endlich aus ihrem Gespräch mit Carl lösen konnte.
Leontine sah den mehr als zehn Jahre jüngeren Carl an, in ihren Ausdruck gelangte etwas von Traurigkeit und Ergeben. Ihre Stimme war zugleich tragend und fest, als sie sagte: Grausam. Sie machte eine Pause, schien sich besinnen zu müssen. Ihre Sicht ist grausam, Carl. Das ist der richtige Augenblick zum Aufbruch. In Leontines Stimme mischte sich eine gewisse Härte, die fast bitter klang. Wenn man Ihnen zuhört, möchte man meinen, dass die Priester, über Ihre Rabbiner weiß ich zu wenig, dass die Priester also mit ihrem Versprechen auf Linderung des Schmerzes die ersten Ketzer waren. Eine organisierte Bande, die Christen? Leontine schüttelte den Kopf. Verachtung trat in ihr Gesicht. Sie blickte weg, blickte zu Martha, die noch immer an der offenen Flügeltür wartete. Leontine stand auf, sie legte ihre Hand auf Marthas Arm. Komm, Martha, wir gehen.
Die beiden Frauen verließen das Zimmer. Man hörte sie im Flur leise, wenige und kurze Sätze reden. Dann fiel die
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