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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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alles erklärt und ich habe seine Tränen getrocknet. Er ist verzweifelt, aber er will Sie nicht belasten, will nicht, dass Sie Kummer haben.«
    Arndt fühlt sich, als habe jemand Eiswasser über ihn gegossen. »Aber ... er kann noch viele Jahre leben.«
    » Man vermutet, wenn er Glück hat, noch drei bis sieben Jahre. Aber schon morgen kann er umkippen. Das weiß niemand genau. Kennen Sie die Symptome? Erbrechen, Fieber, Appetitverlust, Nachtschweiß, Schluckschmerzen, Geschwüre im Mund und schließlich extremer Gewichtsverlust. Wenn er stirbt, wird er wie ein Skelett aussehen und niemand kann ihm helfen. Es gibt kein Gegenmittel.«
    Arndt wehrt sich dagegen, aber Tränen steigen in seine Augen. Marita Rikola sieht ihn unbarmherzig an. »Und alles nur, weil ihr euren Schwanz in andere Ärsche stecken müsst.«
    Arndt zuckt vor der barschen Ausdrucksweise zusammen und krümmt sich innerlich unter dem Peitschenschlag, der in diesem einen Satz liegt.
    »Mike hat mir versichert, er sei Ihnen treu gewesen. Wissen Sie, was das bedeutet?«
    Arndt schluckt. Ihm fehlen die Worte.
    »Das bedeutet, Sie sind der Ursprung. Sie sind infiziert und haben Mike angesteckt. Irgendwann in der Vergangenheit haben Sie sich den Virus geholt und weitergegeben. Sie sind der Mörder.«
    Arndt stößt einen Ton aus, der wie der eines Frosches klingt, der unter einem Schuh zertreten wird.
    » Ich hasse euch widerliche Kerle. Da ist ein ganz normaler Mann, der Frauen liebt und so einer lässt sich von einer Tunte wie Ihnen umdrehen? Wie macht ihr das? An welche Urinstinkte appelliert ihr? Oder sind Männer wirklich so blöd, dass sie zu demjenigen laufen, der am besten bläst?«
    Vielleicht ist das so, denkt Arndt sarkastisch und schweigt.
    Er wischt sich die Tränen weg und strafft sich. In seinem Kopf herrscht Chaos, und die Frau vor ihm verschwimmt im Nebel, wie ein böser Geist. Er reckt das Kinn vor und sagt: »Danke, dass Sie es mir gesagt haben. Ich werde für Mike da sein. Und Sie, Frau Rikola, können aufhören, zornig auf uns zu sein. Wir Schwulen werden, wie es scheint, unsere Strafe erhalten. Man sagt, der HI-Virus sei sehr spezifisch für Homosexuelle. Nun ... vielleicht rotten wir uns auf diese Weise gegenseitig aus. Hitler versuchte es im Dritten Reich in den Gaskammern und Gott setzt es heutzutage mit einer Krankheit fort. Diese Aussicht sollte Sie zufriedenstellen.«
    Die mollige Frau springt auf. Ihre Handtasche reißt die Kaffeetasse zu Boden. Sofort eilt ein Kellner herbei. Hastig wirft sie ein Fünfmarkstück auf den Tisch und im selben Moment hat Arndt ein schlechtes Gewissen. Er will es ihr zeigen und steht auf. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe es nicht so ...«
    » Doch!«, schnappt sie. »Genauso haben Sie es gemeint. Von mir aus könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt. Aber lasst die Finger von gesunden Männern. Wer nicht abartig veranlagt ist, sollte es auch nicht werden!«
    Arndt begreift, dass jedes weitere Wort überflüssig ist, und sieht ihr hinterher. Sie liebt ihn noch!, begreift er. Verdammt noch mal, sie liebt ihn noch immer.
    Er zittert am ganzen Körper, als er sich wieder setzt und dem Kellner zusieht, der die Scherben aufsammelt.

10
     
    Lotte begreift, dass nichts ihre Erinnerungen auslöscht.
    Sie kann und will mit Frank nicht darüber reden, denn es wird immer schlimmer, intensiver, nachhaltiger. Sie altert und entfernt sich von der Zeit des Leidens, doch die Erinnerungen folgen ihr nach und quälen sie. Wie weit soll sie noch fliehen? Wann endlich hat sie das Land der Zufriedenheit erreicht?
    Sie ist ein Flüchtling.
    So wie damals, als Flüchtlinge durch ihr Dorf zogen und die Front näher rückte.
    Es ist, als sei es heute. Die Erinnerung ist so präsent, dass es grausam schmerzt.
     
     
    Es ist 1944.
    Es ist kalt und in der Ferne rumpeln Detonationen.
    Die Ladenbesitzer schließen ihre Läden und nicht wenige sagen: »Nehmt alles mit, was wir noch haben. Das soll kein Russe haben.« Nicht wenige blicken traurig drein und man sieht, dass sie abgeschlossen haben. Nicht nur ihre Läden, oh nein.
    23 Pferdewagen und viele kleine Handwagen sind mit den notwendigsten Sachen beladen. Lotte erinnert sich genau an die Anzahl, denn sie musste sie zählen, weil sie ein helles Mädchen ist. Wie zwei Pferde sind Lotte und Muttel mit einer Wäscheleine eingespannt. Es ist schwierig, im Schnee mit der Deichsel das Gleichgewicht zu halten.
    Fuß vor Fuß. Und Fuß vor Fuß. Keine richtigen Schuhe,

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