Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Wollwickel darum.
Kälte in den Knochen und Hunger. Der immerwährende Hunger. Doch damit kann man leben, viel schlimmer ist der Durst. Je mehr Schnee fällt, desto durstiger wird man. Woher das kommt? Keiner begreift es.
Übernachtet wird in einem Kuhstall. In den breiten Mittelgang wird von freundlichen Menschen Stroh gestreut und die Flüchtlinge liegen wie die Heringe, alte und junge Leute durcheinander, in voller Kleidung. Es stinkt nach Schweiß und Mensch, ein Geruch, den man nie vergisst. Kinder weinen vor Erschöpfung, ein nimmer endender Gesang der Trauer.
Am nächsten Morgen geht es weiter. Viele haben wenig oder kaum geschlafen, die Beine sind wie Blei, der Rücken steif und der Kopf verklebt von seltsamen Träumen. Es gibt nur kalte Verpflegung, aber das kennt Lotte inzwischen. Die Hauptsache ist, dass die Pferde versorgt werden, denn sie bringen das, was man hat, in die neue Heimat. Die Berge im Riesengebirge werden immer höher, und das Glatteis machte ihnen und den Pferden schwer zu schaffen.
Außerdem naht die Front!
Donnerhall hinter ihnen wie ein wortloses Antreiben.
Junge Leute laufen voraus, um Asche oder Sand zum Streuen zu holen, woher auch immer. Damit retten sie den Treck. Sie alle wissen, dass die Pferde es sonst nicht schaffen können, denn sie rutschen mit den Hufen weg.
Und dann ein Poltern! Schreie, laut und unerbittlich. Ein Wagen ist umgekippt und mit ihm die gesamte Hoffnung auf Rettung. Alles ist in die Dunkelheit gefallen. Bilder, Schränkchen, Utensilien, alles, was ein Leben in Erinnerung hält. Jeder versucht, dem anderen zu helfen, aber manchmal dauert es zu lange, denn der Treckführer macht Tempo. Weiter, immer weiter!
Er ist ausgesucht worden, um mit seiner Erfahrung den Treck zu leiten und sein Wort ist Befehl! Er macht seine Arbeit gut und man sollte ihm später, wenn alles wieder gut ist, einen Orden verleihen.
Alle sind übermüdet.
Dann wird die Verpflegung weniger. Bei den Bauern hat man manchmal Glück und bekommt frisch gemolkene Milch für die Kinder. Diese Bauern, die man am liebsten steinigen würde, denn sie haben, was man braucht. Dennoch sind sie für viele die Rettung und jeder, sogar der Wütende, ballt die Faust in der Hosentasche. Und begreift vielleicht, dass die Bauern bleiben, während die anderen weglaufen.
Dann geht es eine Weile gut, nichts ist mehr zu hören von den Russen, denen sie schon zweimal begegnet sind, und Hoffnung macht sich breit. Otto und seine Mundharmonika rettet Lotte, Mutter, und Piefke das Leben. Der Kleine weiß das nicht, doch so war es. Zu Ende ist der Treck deshalb längst nicht, im Gegenteil.
Bis sie vor den Schatten stehen, die sich vor ihnen erheben. Die Berge sind fast unüberwindlich, aber mit vier oder sechs Pferden im Vorspann schaffen sie es. Wenn es dann bergab geht, helfen alle beim Bremsen, denn die Wagen rutschen weg. Es gibt gebrochene Knochen und gesplitterte Gelenke. Es ist ein entsetzliches Unterfangen, doch es gelingt.
Sie schaffen es, denn die Zukunft ruft.
Lieber Gott, es ist gelungen, jetzt will man nur noch schlafen, ausruhen, doch das Quartier ist voll. Zu viele Flüchtlinge, kein Unterkommen, also ... weiter!
Weiter?
Wohin?
Sie sind am Ende ihrer Kraft. Sie wollen nur noch ruhen, aber der Treckführer, nur Gott weiß, woher er die Kraft nimmt, treibt sie an. Weiter, immer weiter!
Die Strapazen werden unerträglich. Die Mädchen kümmern sich um die Kinder und die alten Leute, die sich zur Ruhe legen und lächelnd Abschied nehmen wollen. Die Jungen dagegen um die Pferde. Und sie helfen den wenigen alten Männern bei den Reparaturen.
Der Treck geht unaufhaltsam weiter.
Im Rücken die Front und der hallende Ruf: »Die Russen kommen!«
Manchmal kommt man in Schulen oder Turnhallen unter, einige wenige in Gaststätten, wo man sich waschen oder gar duschen kann.
Und endlich ist der Krieg vorbei!
Ein Grund zum Jubeln, und Lotte erinnert sich, als sei es gestern gewesen, wie sie sich freute, wie sie tanzte und ihre Mutter umarmte, wohingegen Käthe Jäckel kalt blieb und die Mundwinkel nach unten zog. »Wir sind noch nicht weit genug, Tochter.«
Nein, der Krieg geht weiter, doch das erzählt man niemandem sonst, denn es glaubt einem keiner.
Man lebt unter Polen und viele auch unter Russen, die schneller waren.
Und fast jede Frau, die so lebt, wird vergewaltigt und ausgenutzt. Sie sind Sklaven der neuen Herren.
Piefke stirbt um Haaresbreite an Typhus und Muttel ist kurz davor, komplett
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