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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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ihn sich erträumt, und Ottilie wird diesen Tag nie vergessen. Sie weint und man drückt sie und sie weint und man tröstet sie und sie weint und man sagt ihr, dass sie keine Schuld trage, doch sie weiß, dass es anders ist.
    Es war ein Versehen. Man wundere sich, dass so etwas nicht schon früher geschehen sei.
    Ein Unfall. So grausam es ist, Unfälle ereignen sich!
    Es wird vor Gericht gehen und um Aufsichtspflicht, aber sie wird ausreichend mütterliche Liebe präsentieren, damit man sie laufen lässt. Und vielleicht bekommt sie sogar eine Entschädigung, denn vor das Fenster hätte ein Sicherungsgitter gehört, so schreibt es die Bauordnung vor.
    Mama sieht sie an. Mit Augen, in denen die zukünftige Blindheit wartet, mit harten Mundwinkeln, scharfen Falten und einer unbarmherzigen Frage: Warum hast du nicht aufgepasst?
    Ich habe aufgepasst und ich wollte es so!, möchte Ottilie ihr entgegenschleudern aber das wäre falsch, also schweigt sie und weint, was ihr nicht schwerfällt, denn die Trauer ist intensiv und droht sie in die Knie zu zwingen.
    Jeder ist für sie da, außer Mama.
    Jeder hat ein nettes Wort für sie, außer Mama.
    Jeder hat Verständnis, außer Mama.
    Sie ist die Wahrheit, ist jene, die sich mit einem Krähseufzer fragt, wer an sie denkt und nie etwas anderes wollte, als Ottilie nach ihrem Bild zu formen. Sie ist die Göttin der Küche und der Wohnung und des Staubwedels, und wenn es nach Ottilie gehen würde, wäre Mama die erste, die in eine RAF-Bombe laufen sollte, um endlich aus dieser Welt zu verschwinden.
    Dennoch liebt sie Mama.
    Liebt sie so sehr und begreift es nicht.
    Liebt sie mehr, als alle anderen, denn Mamas Trost, den sie endlich und viel zu spät dann doch bekommt, ist ein Vielfaches dessen wert, was sie bisher an schalen Worten empfangen hat.
    »Wenn du nicht mehr weiter weißt, komm zu uns«, flüstert Mama.
    » Ja.«
    Und deshalb bin ich endlich frei von dir, frei von Konventionen, frei von allem, was man von mir erwartete. Jasmina hat mich befreit. Und sich selbst. Wir beide sind erlöst.
    Das erste Mal nach fast fünfzehn Jahren hat Ottilie das Bedürfnis, ein Messer zu nehmen und sich die Arme aufzuschneiden, bis das Blut läuft. Endlich alleine sein mit dem Schmerz. Sich spüren. Das bittere Gefühl nur selbst zu empfinden und ... zu genießen. Niemand, der einem sagt, was Schmerz zu bedeuten hat, niemand, der sich einmischt.
    Wie Mama!
    Die sich immer eingemischt hat. Schon damals, als sie, Ottilie, die nicht Ottilie war, den ersten Freund hatte und Mama auf dem Kudamm rumgebrüllt hat wie eine Wahnsinnige. Ottilie hatte Salvatore nur deshalb gestattet, sie zu entjungfern, um es Mama zu beweisen. Weil sie ihr zeigen wollte, dass sie erwachsen ist. Und Tante Gina hatte es gewusst, aber stets dazu geschwiegen. Worte hätten nichts geändert.
    Tante Gina.
    Sie hätte ihre Mutter sein sollen.
    Das wäre schön gewesen. Vielleicht hätte sie mit einer wie Gina keinen Jonathan kennengelernt, keinen jungen Mann, mit dem sie ins Bett stieg, um endlich, endlich eine Erklärung dafür zu haben, aus dem heimischen Haus zu fliehen, wo sie in ihrer freien Zeit das Treppenhaus wischen musste, während ihr Bruder es sich gutgehen ließ. Bei Gina wäre sie gerne geblieben, aber von Mama wollte sie nur weg und band sich an den Erstbesten.
    Den Mann, der ihr Jasmina schenkte.
    Und er schenkte ihr die Schuld!
    Alle sind da!

9
     
    » Okay, sag mir, was wirklich los ist!«
    » Ich weiß nicht, was du meinst, Arndt!«
    » Du triffst dich wieder mit Marita!«
    » Woher weißt du das?«
    » Ich habe euch zufällig gesehen.«
    » Spionierst du mir hinterher?«
    » Wie sollte ich euch übersehen? Ein gutaussehender Mann und eine Blondine. Arm in Arm.«
    » Deshalb glaubst du, ich sei dir untreu?«
    » Das habe ich nicht gesagt.«
    » Aber du hast es so gemeint.«
    » Ich weiß nicht, was ich meine. Aber klar ist, dass ihr euch trefft.«
    » Na und? Schließlich waren wir fast zehn Jahre zusammen. Eine lange Zeit.«
    » Und warum erzählst du mir nichts davon? Ich hätte Verständnis, dass du dich hin und wieder mit ihr triffst, wenn nichts anderes dahinter steckt.«
    » Ich will von dir auch nicht wissen, wem du wann begegnest, Arndt. Berlin ist eine große Stadt. Da laufen einem Menschen über den Weg, Leute, die man kennt, mit denen man einen Kaffee trinkt. Ich war Journalist und hatte einen großen Bekanntenkreis.«
    » Ich bin dir treu.«
    » Ach so ... du glaubst also, ich sei es

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