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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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wieder.« Sie schwingt sich aus dem Bett und huscht in ihren Bademantel. Sie öffnet die Haustür.
    » Jasmina ...«, flüstert die lockere Dame.
    » Was ist mit ihr?«, fragt Ottilie. Vergessen ist der Mann, der hinter sie tritt und von der Dame mit großen Augen gemustert wird, vorbei die Stunden der Liebe. »Was ist mit ihr?«
    » Wir glauben, sie hat Fieber. Sie röchelt und atmet schwer.«
    » Wer?«, fragt der Mann hinter Ottilie, in Unterhose und Unterhemd.
    Ottilie dreht sich zu ihm um. »Meine Tochter.«
    » Du hast eine Tochter?«
    » Ja.«
    » Ihr geht es schlecht? Lieber Gott, holen wir sie zu uns«, sagt der Mann und Ottilie traut ihren Ohren nicht. So also denkt er? Das ist wunderbar!
    Sie geht nach nebenan und h ebt das zarte Wesen hoch. Das ist nicht mehr einfach, aber noch machbar. Der schöne Mann starrt Jasmina an. Starrt, und seine Lippen zittern.
    » Das ist Jasmina, meine Tochter. Sie ist das liebste Mädchen der Welt«, flüstert Ottilie. »Ich habe ein spezielles Medikament gegen diese Fieberanfälle.«
    Er schluckt hart und sagt nichts.
    Ist er bleich geworden?
    Ottilie hat keine Zeit, sich um den Mann zu kümmern. Sie trägt Jasmina an ihm vorbei in ihre Wohnung und versorgt sie. Als sie das getan hat, will sie sich von dem Mann küssen, will sich umarmen und trösten lassen, will dem Mann alles erklären, denn sie braucht Verständnis und Vertrauen, da sie so schrecklich einsam ist.
    Doch er hat sich unbemerkt davongestohlen, und sie ist wieder da, wo sie war. Alleine in der Wohnung mit ihrer Tochter.
     
     
    Die nächsten Tage versinken für Ottilie in trüber Dämmerung. Sie fragt sich, wie lange sie noch leiden soll und badet in Selbstmitleid.
    »Ich habe es verdient, zu lieben und geliebt zu werden«, flüstert sie und weiß, dass sie zu viel trinkt. Sie hat eine fast vergessene Flasche auf dem Tisch stehen, und während sie mit Jasmina spielt, trinkt sie ein Gemisch aus Orangensaft und Wodka.
    Ich bin nicht Ottilie!
    So war es, als Mama sie einengte und zu einer guten Hausfrau dressieren wollte. So war es, als sie sich ritzte und vieles in der Welt sich ihrem Verständnis entzog. So war es, als sie bei Tante Gina in Berlin lebte und Salvatore ihr die Unschuld nahm, ungestüm und ohne Zärtlichkeit. So war es, als sie Jonathan kennenlernte und ihn heiratete. Sie wartet bis heute vergeblich auf Unterhaltszahlungen. So war es, als sie begriff, dass sie Schuld trägt. Für was auch immer. Denn so muss es sein, da Gott will, dass sie sich einem behinderten Kind opfert.
    Ich bin Ottilie!
    Bin Ottilie Wille, benannt nach jenem bekloppten Mädchen aus Goethes Wahlverwandtschaften , die ihr Kind in einem See ertränkte. Oder war das Gretchen gewesen?
    Bin ich Gottes Gläubiger?
    Fordere ich ein, was mir nicht zusteht?
    Sie sieht Jasmina an, die noch immer die Gesichtshaut eines Engels hat und nicht zu altern scheint, deren Bewegungen spastisch wirken und deren Lippen sich langsam bewegen und das Wort Mama formen. Dieses eine Wort hat sie in all den Jahren gelernt.
    Mama!
    Ottilie möchte schreien, mit dem Kopf an die Wand rennen, bis das Blut sie erblindet, will dieses eine Wort nicht mehr hören.
    Mama!
    Hin und wieder kommen die Damen von nebenan und bringen ihr Kartoffelsuppe, frischen Kaffee und gute Ratschläge. Doch letztendlich ist sie alleine mit den Geräuschen, die Jasmina ausstößt und dem Geruch der Krankheit und der Unordnung der Zimmer und dem Aroma von Wodka mit Orangensaft. Doch am schlimmste ist der Geruch, den sie selbst verströmt, süßer Schweiß mit einem Odeur von Urin. Sie hat sich seit vier Tagen nicht geduscht, hat kaum gegessen und auf der Spüle stapelt sich Geschirr mit zementierter Kartoffelstärke.
    Das alles stört sie nicht. Nicht mehr!
    Ich bin Ottilie Wille und ich habe einen Entschluss gefasst.
    Sie wird sich befreien.
    Wird so nicht weiterleben.
    Und wenn sie der Gläubiger Gottes ist, soll Er da oben, oder wo immer Er weilt, den Offenbarungseid leisten.

6
     
    Frank Wille atmet den Geruch der Kohle und den Staub und den Schweiß der Männer. Kaum etwas auf Zeche Kruse/Konstanzia erinnert an die sechziger Jahre. Stollen sind gefliest und breit wie Straßen, alles ist hell mit Neonlicht erleuchtet und die Belüftung funktioniert tadellos. Die Maschinen sind leiser und der Abbau größtenteils maschinenbetrieben.
    Geblieben sind die Gezähekiste und die Butterdose, die man an einen Haken hängt, damit die Mäuse nicht drankommen, und sogar von den kleinen

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