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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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Nagern gibt es nicht mehr so viele. Vieles hat sich geändert. Nur noch wenige deutsche Kumpels gibt es; die meisten kommen aus der Türkei oder aus anderen Südländern.
    Frank Wille ist Steiger und er hat die Macht, die einst Schotterbein innehatte. Das alles ist Vergangenheit und so weit entfernt wie ein anderer Stern oder Planet.
    Frank genießt diese letzten Stunden.
    In der Kaue hat sich nichts geändert. Noch immer hängt die Wäsche unter der Decke wie vergessene Wespennester und noch immer riecht es nach Kernseife und Schweiß.
    Wird er es vermissen?
    Nein!
    Er wird das Tageslicht genießen, es regelrecht aufsaugen, wird jeden neuen Tag begrüßen, den er nicht unter Tage fahren muss, wird Lottchen ein guter Mann und den Rest seines Lebens fröhlich sein.
    So fährt er aus.
    Ein alter Bergmann, der zum letzten Mal seine Lampe abgibt. Ohne Trauer. Ohne Kummer. Vielleicht ist er ein Feigling, weil er vor den Erinnerungen davonläuft, vielleicht glaubt er, wenn er es vergisst, es nicht erlebt zu haben, aber vielleicht ist die Hoffnung auf viele Jahre Frieden sein Regenbogen über dem herunterstürzenden Bach des Lebens.

7
     
    Ottilie blickt aus dem Fenster. Drei Stockwerke tiefer herrscht Stille. Die Seitenstraße ist eine Allee und schön gelegen. Sie hat es gut getroffen. Die Miete ist bezahlbar und sie hat nicht nur eine Dusche, sondern auch eine Badewanne, in der sie sich gerne räkelt, während Badeschaum mit Apfelduft ihre Haut umschmeichelt.
    Mama!
    Sie dreht sich um. Soeben hat sie überlegt, die Fenster zu putzen, keine Arbeit, die sie gerne macht, aber noch immer herrscht Mamas Erziehung in ihr und die Gewissheit, dass es weder heute noch morgen regnen wird, sodass sie noch etwas Freude am klaren Ausblick haben wird.
    » Mama!«
    » Ja, Liebes?«, fragt sie.
    In Jasminas Mundwinkel glitzert Speichel, die Augen leuchten und das Mädchen lacht fröhlich.
    Was amüsiert dich?, möchte Ottilie wissen, doch sie wird darauf nie eine Antwort erhalten. Das macht es so schlimm, nicht zu wissen, was in diesem hübschen Kopf vor sich geht. Mit den Jahren hat Ottilie erkannt, dass Jasmina durchaus rational handelt, zum Beispiel, wenn sie ihre geliebten Kekse möchte, sie nicht bekommt und wütend auf die Packung klopft.
    Was amüsiert dich?, fragt Ottilie sich erneut. Dass ich wieder einen Mann verloren habe?
    Oh ja, sie versteht die Männer. Wer möchte sich schon ein behindertes Kind ans Bein binden? Wer möchte die nächsten Jahre damit verbringen, eine Halbwüchsige auf dem Schoss zu schaukeln? Wer bringt so viel Liebe auf, dass es für zwei reicht? Sie selbst würde nicht anders handeln.
    Wie alt wird Jasmina werden? Fünfzehn oder sechzig? Niemand weiß das und die Ärzte zucken mit den Achseln.
    Ottilie leert das Glas mit Wodka und Orangensaft. Inzwischen hat sie sich an den bitteren Geschmack gewöhnt und stets einen Vorrat im Haus. Die Wirkung des Alkohols ist wohltuend und lässt sie schweben. Sie passt auf, nicht zu viel zu trinken, da der Kontrollverlust abrupt kommen kann ... und wer wäre dann für Jasmina da, falls dem Mädchen etwas zustößt?
    Verdammt. Sogar besaufen kann sie sich nicht, wenn sie das Bedürfnis verspürt.
    Wie so oft in letzter Zeit, weint sie, und alles geht über ihre Kraft.
    Jasmina kriecht verrenkt über den Teppich, für einen Unbedarften vermutlich ein grausiger Anblick. Sie wirkt wie ein Alien, wie die verzerrte Version eines hübschen Mädchens, wie eine, die man in Filmen zeigt, um den Zuschauern Angst einzujagen. Würde sie krächzen und gruselige Laute ausstoßen, würde man darauf warten, dass der Held kommt, um ihr mit einer Schaufel den Kopf abzuschlagen.
    Ottilie schaudert es bei diesen Gedanken und sie fragt sich, wie ehrlich sie zu sich selbst sein darf. Lieber Himmel - sie ist eine Mutter . Sie versündigt sich mit diesen Trugbildern. Der Wodka spült ihre Hemmungen fort und sie füllt das nächste Glas.
    » Prost«, sagt sie zu Jasmina.
    Das Mädchen lacht und lacht.
    »Warum lachst du? Lachst du mich aus?«, fragt Ottilie. »Oder lachst du, weil dein Leben so viel schöner ist als meins? Du hast keine Sorgen, keine Bedürfnisse, keine Sexualität, keine Neigungen, und nichts für dich ist wirklich notwendig.«
    Sie hofft darauf, dass Jasmina einmal, nur einmal verharrt und aufmerksam zuhört, doch scheinen Ottilies Worte nichts anderes zu sein als hohle Buchstabengebilde, als Laute, auf die das Kind nicht wie erhofft reagiert, da es sie ähnlich wahrnimmt

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