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Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)

Titel: Die Mitte des Weges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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wie das Hupen eines Autos oder das Wispern des Windes in der Birke vor dem Fenster.
    Zu dem strebt Jasmina. Sie hockt gerne davor, die Nase an das Glas gedrückt und ihre Blicke folgen den Wolken, dem Geruch, den Schatten. Was erblickt sie? Welche Bilder formt sie in ihrem zerstörten Gehirn? Annahmen, Vermutungen, nichts, worauf Ottilie eingehen kann und wenn sie ehrlich ist, ist auch das eine Wort unklar ausgesprochen und klingt wie
    Mrooma!
    Noch immer weint Ottilie und nimmt erheitert vom Wodka wahr, dass sie es sich abgewöhnt hat, die Tränen abzutrocknen. Ihre Wangen sind nass, doch sie lässt es, wie es ist. Nicht einmal die Traurigkeit ihrer Mrooma nimmt Jasmina wahr. Wie kann sie nur? Sie ist ein Engel und ein Ungeheuer gleichermaßen.
    Der letzte Satz hallt in Ottilies Kopf wider und sie schämt sich dafür.
    Mit einem Ruck öffnet sie das fast bodentiefe Fenster.
    Sofort wird es etwas kühler im Wohnzimmer.
    Jasmina zieht sich am Fensterbrett hoch und rutscht etwas nach vorne. Sie schnuppert und lächelt, so, wie sie immer lächelt und Wind bewegt ihre dünnen blonden Haare.
    Sei vorsichtig!, denkt Ottilie. Das Fensterbrett befindet sich nur ungefähr vierzig Zentimeter über dem Dielenboden. Für einen Erwachsenen eine Barriere. Sehr stylisch, denn man kann größere Pflanzen daraufstellen und benötigt im Grunde keine Gardine. Das Sicherungsgitter war alt und der Hausbesitzer hat es abmontiert, um es ersetzen zu lassen.
    Ottilie stöhnt. Sie muss das Fenster schließen. Das ist zu gefährlich für Jasmina. Das Mädchen hat keine Vorstellung von Tiefe oder Entfernung. Zu schnell kann ein Unglück geschehen.
    Stattdessen dreht sie sich um und füllt das Glas erneut. Sie trinkt und wartet darauf, was mit Jasmina geschieht.
    » Wache auf, Kleine«, flüstert sie. »Wache auf und begreife.«
    Das Mädchen dreht den Kopf zu ihr, und für einen winzigen Augenblick hat Ottilie das Gefühl, die strahlenden Augen blicken direkt in ihre Seele.
    Mrooma!
    » Wenn du noch weiter nach vorne krabbelst, wirst du nach unten stürzen«, schluchzt Ottilie. »Ich will nicht den Rest meines Lebens auf dich aufpassen. Verdammt, verdammt ... Begreife, dass du stirbst, wenn du aus dem Fenster fällst.« Ihre Stimme hört sich jammernd an, eindringlich und anklagend.
    Jasmina lacht und tapst mit einer Handfläche auf die Fensterbank, die ihr eine Freude bereitet, die Ottilie nicht nachvollziehen kann. Das junge Mädchen kriecht noch etwas höher und liegt jetzt quer, während unten Autos vorbeifahren und wenige Fußgänger lebhaft miteinander redend vorbeigehen.
    Ja, sie begreift! Sie legt sich quer auf das Fensterbrett. Das ist der Beweis. Ein Beweis dafür, dass das Kind mit ihr spielt. Dass es viel mehr begreift, als es zeigen will.
    Ottilie sagt: »Du weißt genau Bescheid, nicht wahr? In Wirklichkeit weißt du alles. Aber es macht dir Spaß, mich zu quälen, du kleiner Teufel. Du verstehst jedes meiner Worte und lachst dir eins. Du willst nicht selbständig werden, weil du bequem und faul bist.«
    Jedes ihrer Worte wird von Schluchzen unterbrochen und Schweiß läuft Ottilie über den Rücken. Sie will Mama anrufen, oder Tom oder Tante Gina, die tot ist. Hat jemals jemand gefragt, wie sie sich nach Ginas und Ottos Tod fühlte? Schließlich hat sie lange bei den beiden gelebt.
    Nein, immer hieß es nur:
    Wie geht es Jasmina?
    Arme Jasmina!
    Ach, ist sie süß, deine Jasmina!
    Nie jemand, der sagt: Ottilie ist eine starke Frau, eine, die sich selbst aufgibt, um ihrer Tochter ein schönes Leben zu bieten. Niemand sagt das, vor allen Dingen nicht Mama. Denn für Mama ist es selbstverständlich. Kalt ist diese Frau und wird es immer bleiben. Unbarmherzig in ihrer hausfraulichen Tugendhaftigkeit. Gott, wie Ottilie diese Frau hasst.
    Es wird Zeit, frei zu sein.
    I’m free!, singt Roger Daltrey von The Who .
    I’m free!, singt es in Ottilie.
    Mrooma!, singt Jasmina mit heller Stimme und lacht und lacht und verschwindet über das Fensterbrett nach vorne. Sie hangelt nicht, versucht nicht sich festzuhalten, sondern ist einfach weg. Kein Ruf, kein Schmerzensschrei.
    Und Stille.
    Endlich Stille.
    Ich bin wieder Ottilie!

8
     
    Alle sind da.
    Mama und Papa sowieso, Tom und seine Lydia, aber auch Onkel Rudi und Tante Traudel. Mehr gibt es nicht von den Jäckels, denn die anderen sind tot wie Jasmina, die man in einem kleinen Sarg in die Erde bettet. Der Pastor redet schön und die Vögel zwitschern dazu. Es ist ein Herbsttag, wie man

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