Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
ertragen.
Egal, was er tut, unwichtig, wie er reagiert, er kann es ihr nicht Recht machen. Stets findet sie kleine Fäden, die sie aufnimmt und zu einem stinkenden Seil verknotet. Und wenn er dann irgendwann so entnervt ist, dass er zurückbrüllt, zornig reagiert und laut wird, hat sie ihn da, wo sie ihn von Beginn an sehen wollte.
Er sei schuld an allem. Er sei derjenige, der schreie. Er sei derjenige, der sich nicht im Griff habe.
Und sie stampft mit der Prothese auf oder wirft sie nach ihm. Einmal traf sie seinen Kopf und fegte dabei seine Brille quer durchs Zimmer. Halb blind und kurzsichtig suchte und fand Thomas seine Prothese und war kurz davor, Lydia zu verlassen.
Vielleicht wäre das richtig gewesen.
Vielleicht hat er den richtigen Zeitpunkt verpasst. Nun ist es zu spät.
Er begreift, dass der Rockpalast ohne ihn ausk ommen muss und stellt sich ihren grausamen Fragen und Behauptungen.
5
Nachdem Ottilie mit Jasmina umgezogen ist, hat sich ihr Leben verändert.
Sie hat Nachbarn.
Keine Nachbarn, die schweigend grüßen, keine Nachbarn, die still beanstanden, sondern zwei Frauen, die zusammenleben und beide fast sechzig sind. Frauen, die vor dreißig Jahren den Elvis in Leder angebetet haben und auch heute einem knackigen Hintern hinterher blicken. Die eine schwärmt von Woody Allen, die andere von Christopher Lambert, der soeben mit Greystoke Erfolge feiert und dessen kurzsichtiger Blick Löwen zum Zittern bringt.
Kurz gesagt, zwei lockere Damen!
Und sie lieben nicht nur knackige Männerhintern, sondern auch Jasmina. Es dauerte zehn Minuten und sie hatten ihr Herz verloren, sodass Ottilie nun an ein paar Abenden im Monat ausgehen kann, ohne sich sorgen zu müssen.
Sie ist im Jigsaw , wo das Publikum überwiegend älter ist und zu ihr passt, beziehungsweise sie zu denen. Die Musik ist moderat, man ist hier, um sich kennenzulernen.
Sie hat sich schick gemacht. Noch immer hat sie lange, blonde Haare, wunderbare Locken, um die sie jede andere Frau beneidet. Noch immer ist ihr Gesicht das eines Engels, wenn auch eines mit Falten. Und noch immer strahlen ihre Augen, wenn sie es will.
Was, wenn sie erzählen würde, dass sie mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin gekifft hat, jedenfalls indirekt? Wenn sie darüber sprach, dass sie ihren Vater für einen Mörder hielt, sich ritzte und für die RAF Sympathie empfand und am liebsten ...
Nein, das würde sie nicht sagen, denn das passte nicht zu ihrer Ausstrahlung. Obwohl fast dreißig, sah sie bei Diskolicht wie eine Zwanzigjährige aus und hatte nach Jasmina ihren flachen Bauch behalten. Lediglich die feinen Narben an den Unterarmen gab es noch, aber die waren gut verheilt.
An diesem Abend bringt sie einen Mann mit nach Hause. Er ist jünger als sie und sieht blendend aus. Mit ihm kann sie intelligent reden, denn er ist kulturell bewandert, seine Ausdrucksweise ist gewählt und seine Fähigkeiten im Bett sind eindrucksvoll.
Später, sie liegen nebeneinander und rauchen, fragt Ottilie: »Macht es dir gar nichts aus, dass alles so schnell ging mit uns?«
Er lächelt und antwortet: »Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten, sagte Wilhelm Busch. Also lass es so viele davon geben, wie möglich.«
Das gefällt ihr und sie genießt seine Lippen an ihren Brüsten und dass er noch einmal voller Leidenschaft in sie dringt . Ihre hellen Laute der Lust erwecken die Wohnung zum Leben.
» Liebe?«, fragt sie später. »Wie kannst du darüber reden, obwohl wir uns kaum kennen.«
» Ich kenne dich, Ottilie. Ich kenne dich, seitdem ich denken kann.« Auch das gefällt ihr und sie fragt sich, wie ernst sie seine sanften Worte nehmen soll. Sie beschließt, vorerst nicht zu sehr darüber nachzudenken, sondern den Moment zu leben. Das hat sie sich verdient. Er ist keiner für nur eine Nacht, das begreift sie, und sie freut sich auf die folgenden Tage und darauf, dass er sie anruft oder ihr vielleicht einen Brief schreibt.
» Und wie alt bist du wirklich?«, fragt er, auf den Ellenbogen gestützt.
» Zu alt für dich«, lächelt sie.
» Das ist gut«, gibt er zurück. »So sind wir etwas Besonderes.«
Liebe Güte, hat der Mann auf alles eine kluge Antwort?
Ottilie fährt hoch, als es an der Haustür klingelt. Sie will jetzt nicht öffnen. Es ist fast Mitternacht. Es klingelt erneut und ihr Herz fängt an zu stolpern. Der schöne Mann neben ihr sieht sie neugierig an.
» Einen Moment«, sagt sie voller Sorge. »Ich komme gleich
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