Die Mitternachtsprinzessin
Doch als Sophia sich umsah, um die vertrauten Gesichter anzusehen, fehlte die wichtigste Person.
Sie drehte sich zu Timo um, bemerkte seine angespannte Miene, und plötzlich traf sie die entsetzliche Gewissheit wie ein Schlag.
Grauen erfasste sie. Sie brachte die Frage kaum über die Lippen: „Wo ist Leon?“
Gabriel kam sich wie ein Narr vor.
Seine erste Reaktion, als er aufwachte und feststellte, dass sie fort war, war Schrecken gewesen. Es folgte das Gefühl, betrogen worden zu sein, das sich schließlich in Zorn verwandelte.
Er war wütend auf sich selbst, weil er ihr Weggehen verschlafen und es zugelassen hatte, dass sie sich ohne ein Wort davonschleichen konnte. Der Grund dafür lag sicher darin, dass er lange mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war und deshalb geschlafen hatte wie ein Stein. Aber sosehr er sich auch über sich selbst ärgerte, das war nichts im Vergleich zu seiner Wut auf Sophia.
Vermutlich sollte er froh sein, dass sie ihn nicht beraubt hatte, während er schlief, abgesehen von der braunen Stute. Trotz ihrer Unschuldsbehauptungen hatte er tief in seinem Innern geahnt, dass es eine Verbindung zwischen ihr und dem Tier gab, als es auftauchte. Sie waren zusammen gekommen, und jetzt waren sie beide fort - die kleine Lügnerin und ihr gestohlenes Tier. Sollten sie doch! Er hatte ohnehin nicht vor, sich eine Mätresse zu nehmen.
Abgesehen von dem Pferd hatte sie nichts mitgenommen, aber für Gabriel war sie trotzdem eine Diebin. Sie hatte ein Stück von ihm mit sich genommen, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er es besaß.
Das war die einzige Möglichkeit, den Schmerz zu erklären, den er in sich spürte. Er verstand es nicht. Er hatte wirklich gedacht, dass es zwischen ihnen etwas gegeben hätte.
Ein Teil von ihm wollte ihr nachfolgen und von ihr von Angesicht zu Angesicht hören, warum sie ohne ein Wort gegangen war. Er wollte eine Antwort darauf hören, warum sie ihn verlassen hatte. Er verdiente eine Erklärung, und er brauchte diese, um mit diesem Ort abschließen zu können.
Derek würde vermutlich wissen, wo er sie finden konnte, denn er hatte sie engagiert. Aber Gabriel weigerte sich, ihr nachzulaufen. Er lief niemandem nach.
Keinesfalls.
Während die Tage vergingen, bekämpfte er seinen Zorn, indem er klafterweise Holz mit seiner Axt spaltete. Doch diese Anstrengungen halfen ihm nicht, sie zu vergessen, eine Tatsache, die ihn ungemein ärgerte. Offensichtlich lag ihr nichts an ihm, warum also sollte er sich für sie interessieren? Er kannte das Mädchen kaum, und sie hatte ihm lauter Lügen erzählt.
Und doch fühlte er sich frustriert, geplagt von der unerfüllten Lust, die sie ihn ihm geweckt hatte, das hartherzige Frauenzimmer.
Er war hierhergekommen, um die Einsamkeit zu suchen, doch nach Sophias kurzem Besuch war ihm das Alleinsein unerträglich geworden.
Es war lange her, seit er etwas so sehr gewollt hatte, wie er sie wollte.
Er konnte die inneren Kämpfe nicht länger ertragen, gab es auf, so zu tun, als spielte das keine Rolle. Er sattelte sein Pferd. Danach ritt er zum Haus seines Bruders, um Sophia aufzuspüren.
Nur sein Ärger über sie führte ihn wieder hinaus in die Welt. Aber vielleicht war es an der Zeit, dass genau dies geschah.
Er hätte sich keinen schöneren Herbsttag vorstellen können, um den Bauernhof für seinen Ausflug zu verlassen. Die von der Sonne beschienenen Blätter leuchteten in ihrer schönsten Farbenpracht, ein paar hatte der leichte Wind von den Ästen losgerissen, sodass sie in der Luft herumwirbelten und schließlich auf den Wegen liegen blieben. Über ihm zogen weiße Wolken mit einem silbrigen Rand über den hellblauen Himmel.
Während er Felder und Wiesen hinter sich ließ, genoss Gabriel den Anblick ebenso sehr wie sein Pferd die Bewegung.
Nach einem Ritt von etwa zwei Stunden bog er in die Landstraße ein, die zu dem großen weißen Cottage führte, in dem Derek mit seiner Frau Lily wohnte.
Er hielt das Pferd vor dem Liebesnest der noch jung Vermählten an, sprang aus dem Sattel und ging zur Vordertür. Seine Kehle war trocken von den staubigen Pfaden, die er mit seinem Pferd geritten war. Gabriel öffnete die Tür und ging nach Art eines vertrauten Familienmitglieds hinein.
»Jemand zu Hause?“, rief er und blickte im Vorbeigehen in die gemütlich eingerichteten Zimmer.
Niemand antwortete. Aber dann sah er plötzlich durch ein hohes gebogenes Fenster, wie die frisch Verheirateten in ihrem Gartenpavillon Tee
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