Die Mitternachtsrose: Mittsommerhochzeit (German Edition)

Seite: Was machten ein paar Stunden mehr oder weniger schon aus? War es wirklich falsch, die gemeinsame Zeit mit ihm zu genießen, solange sie nicht aus den Augen verlor, dass dieser Abend alles war, was sie von ihm bekommen konnte?
    Natürlich hätte sie ihm schon nach ihrer Flucht aus dem Restaurant die Wahrheit sagen müssen. Doch als er so zornig erklärt hatte, wie sehr er es verabscheute, angelogen zu werden, hatte sie schlichtweg der Mut verlassen.
    Auf Dauer konnte sie dieses Spiel nicht weiterspielen. Er würde die Wahrheit früher oder später herausfinden – und sie dann für ihre Lügen verachten. Aber wem schadete es schon, wenn sie eine kurze Weile lang so tat, als würden sich Märchen doch erfüllen?
    Ein paar Minuten später verließen sie die Fähre, und Henriks Hand schob sich wie von selbst in ihre. Es fühlte sich so gut, so richtig an, dass Noelle gar nicht daran dachte zu protestieren.
    Nur für ein paar Stunden, sagte sie zu sich selbst. Dann ist ohnehin alles vorbei …
    “Sie heißen also Noelle.” Er lächelte. “Ein wirklich bezaubernder Name für eine noch bezauberndere Frau.”
    “Jetzt hören Sie schon auf”, protestierte sie. “Sie machen mich ja ganz verlegen!”
    Henrik bot ihr seinen Arm an, und sie schlenderten über die kopfsteingepflasterten Wege zwischen den verschiedenen Attraktionen, entlang an Verkaufsständen, die verführerisch duftende Zuckermandeln und köstliche
Pannkaka med blåbär
– Pfannkuchen mit Blaubeeren – anboten.
    Wie von selbst schmiegte Noelle sich an ihn, als Henrik einen Arm um ihre Schulter legte. Sie fühlte sich, als würde sie auf Wolken schweben.
    “Sehen Sie, Dosenwerfen!” Er deutete mit der freien Hand auf einen Stand mit einer langen Theke voller Körbe mit Bällen. An der Rückwand waren in Schulterhöhe Bretter angebracht, auf denen Dosen sich pyramidenförmig übereinanderstapelten.
    “Räumen Sie mit drei Wurf alle Dosen ab, und Ihre Begleiterin hat die freie Auswahl”, verkündete der Mann hinter dem Tresen, dem Henriks Interesse nicht entging. Er deutete auf eine Reihe von Stofftieren und Plüschkissen, die an Bändern von den Seitenwänden und der Unterseite des Daches herabhingen.
    “Was davon möchten Sie gern haben?”, fragte Henrik lächelnd.
    Sie lachte. “Nicht so voreilig! Zuerst einmal müssen Sie gewinnen!”
    “Sie glauben wohl nicht, dass ich es schaffe?” Er nickte entschlossen. “Na, dann lassen Sie sich mal überraschen. Ich war als Junge immer sehr gut in solchen Geschicklichkeitsübungen.”
    Und tatsächlich gelang es Henrik schon beim zweiten Wurf, sämtliche Dosen abzuräumen. Noelle applaudierte ihm begeistert. Als er ihr den Gewinn überreichte, den er für sie ausgesucht hatte – ein großes Herz aus rotem Plüsch –, nahm sie es mit gesenktem Blick entgegen.
    Es würde sie für immer an diesen wunderbaren Abend erinnern, selbst wenn Henrik schon längst nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, weil sie ihn angelogen hatte …
    Energisch verdrängte sie diesen unangenehmen Gedanken und hakte sich bei Henrik unter. “Kommen Sie”, sagte sie. “Zum Dank zeige ich Ihnen jetzt endlich, wo es die besten Fischbrötchen von ganz Stockholm gibt.”
    Dass einige Menschen behaupteten, Gröna Lund sei nur etwas für Kinder, verstand Noelle beim besten Willen nicht. Der Vergnügungspark mit seinen Achterbahnen, dem großen Kettenkarussell, der Geisterbahn und den vielen anderen Attraktionen zog sie heute immer noch genauso in seinen Bann wie früher. Sie liebte die Atmosphäre, die hier herrschte – besonders abends, wenn die zahllosen bunten und blinkenden Lichter die Dunkelheit erhellten, so wie jetzt.
    Der Stand mit den Fischbrötchen lag direkt gegenüber vom Riesenrad. Während sie aßen, beobachteten sie, wie die runden Gondeln sich drehten.
    “Haben Sie Lust?”, fragte Noelle spontan, nachdem sie aufgegessen hatten.
    Er folgte ihrem Blick und lachte. “Ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, ich bin in meinem ganzen Leben noch nie Riesenrad gefahren.”
    “Na, dann wird es aber höchste Zeit!”, entgegnete sie bestimmt, nahm seine Hand und führte ihn zur Kasse, wo sie zwei Fahrkarten löste. Wenige Minuten später saßen sie zusammen in einer der Gondeln, und das Riesenrad trug sie langsam in den sternenklaren Himmel empor.
    Zuerst fühlte Noelle sich ein wenig unbehaglich, aber schnell entspannte sie sich, als Henrik schützend den Arm um sie legte. Es war ein herrliches Gefühl, ihm so nah zu