Die Mitternachtsrose
brauchte dringend Schwestern zu r V ersorgung der an der Front Verwundeten. Wie bei allen, die damals vor Ort waren, hinterließen diese Monate unauslöschliche Erinnerungen in mir. Mit ansehen zu müssen, wie die Menschen einander umbrachten, ließ mich an meinem Glauben zweifeln. Ich war dankbar dafür, dass meine Mutter mich, als ich klein war, in die Umgebung von Jaipur mitgenommen hatte, wo ich bereits in jungen Jahren viel Leid sah. So war ich besser auf die Schrecken des Kriegs vorbereitet als die meisten meiner Kolleginnen.
Zufällig begegnete ich Ned, dem Zwillingsbruder meiner Freundin Charlotte, der mit einer tiefen Wunde an der Stirn einige Tage in meinem Feldlazarett verbrachte. Es war eine Freude, ein vertrautes Gesicht aus der Vergangenheit zu sehen.
Offenbar empfand Ned, der in der Nähe unseres Lazaretts stationiert war, genauso, denn nach seiner Genesung fuhr er mit mir in den wenigen freien Stunden, die wir hatten, in den nahe gelegenen Ort Albert, wo wir uns eine kurze Auszeit gönnen konnten. Wir unterhielten uns über Bücher, Kunst und Theater – über alles, nur nicht über die schreckliche Realität, mit der wir tagtäglich konfrontiert wurden.
Wir verbrachten auch den Tag zusammen, an dem endlich der Waffenstillstand verkündet wurde. Inzwischen waren die Schützengräben halb leer, zum Teil weil es angesichts der grässlichen Schlachten an der Somme nicht sonderlich sinnvoll erschien, neues Kanonenfutter herbeizuholen. Allmählich wurde klar, dass den Deutschen keine andere Wahl bleiben würde als die Kapitulation.
Wir fuhren mit anderen Krankenschwestern und Soldaten im Jeep nach Albert; keiner von uns konnte glauben, dass die Nachricht tatsächlich stimmte . A n jenem Abend strömten Soldaten aller Nationalitäten auf den Hauptplatz des Ortes – Engländer, Franzosen, Amerikaner und sogar Inder –, wo eine bunt zusammengewürfelte Kapelle aufspielte.
Als ein Freudenfeuerwerk abgeschossen wurde, verstummte der ganze Platz, und alle erstarrten, weil wir fürchteten, dass es sich um deutsche Raketen handelte. Doch dann sahen wir die leuchtenden Farben am Himmel, und die Anspannung fiel von uns ab.
Unmittelbar danach, ich tanzte gerade mit Ned, tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um. Vor mir stand, wie ein Schatten seines früheren jungenhaften Selbst, Donald Astbury.
» Anahita? Bist du das? «
» Donald? «
» Ja. « Er lächelte. » Selina hat mir geschrieben, dass du als Krankenschwester in Frankreich arbeitest, aber was für ein Zufall, dass wir uns heute hier begegnen! «
Ned salutierte – Donald hatte einen höheren Rang als er –, ich stellte sie einander vor, und sie gaben sich die Hand.
» Wissen Sie was, Feldwebel? Als ich die junge Dame das letzte Mal gesehen habe, war sie knapp fünfzehn. Jetzt … « , Donalds Blick wanderte über meinen Körper, » … ist sie eine erwachsene Frau. Ich hätte dich fast nicht erkannt « , fügte er an mich gewandt hinzu. » Damals … « , wieder zu Ned, » … hat Anni mir prophezeit, dass ich den Krieg wohlbehalten überstehen würde. Ich habe im Schützengraben immer wieder deinen Brief gelesen, Anni. Er hat mir die Kraft gegeben, daran zu glauben, dass ich es schaffe. « Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem müden, grauen Gesicht aus. » Und da bin ich nun! «
Die Kapelle stimmte » Let Me Call You Sweetheart « an.
» Hätten Sie was dagegen, mir diesen Tanz mit Anni zu überlassen? « , fragte Donald Ned.
» Natürlich nicht, Sir « , antwortete Ned mit Bedauern in der Stimme.
» Danke. Komm, Anni, lass uns feiern. « Donald nahm meine Hand und zog mich in die tanzende Menge.
Leider muss ich gestehen, dass ich an jenem Abend nicht mehr zu Ned zurückkehrte. Donald und ich tanzten auf dem Marktplatz in Nordfrankreich die ganze Nacht hindurch, als würde unser Leben gerade erst beginnen. Und vielleicht war das auch so.
» Nicht zu fassen, wie erwachsen du geworden bist! « , sagte er ein ums andere Mal. » Anni, du bist wunderschön! «
» Bitte … « Ich wurde rot. » Mein Kleid ist drei Jahre alt, und ich war über achtzehn Monate nicht mehr beim Friseur. «
» Deine Haare sind wunderschön « , schwärmte Donald und ließ die Finger hindurchgleiten. » Du bist wunderschön! Es ist Schicksal, dass wir uns heute Abend hier begegnet sind. «
Ich versuchte, Donalds Komplimente und sein Geständnis, er habe in den vergangenen zwei Jahren jeden Tag an mich gedacht, nicht bis zu meinem
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