Die Mitternachtsrose
lauschte ich auf die Stimmen, die sich meldeten, wenn jemand die Erde verließ, wie es bei V iolet und Donald der Fall gewesen war, doch bei dir blieben sie stumm.
Eines Abends kurz vor unserer Ankunft reichte Indira, die meine neu gefundene Ruhe so interpretierte, dass ich mich in mein Schicksal fügte, mir zwei Umschläge.
» Mach den zuerst auf « , sagte sie und deutete auf den kleineren.
Als ich ihn öffnete, glitt die Perlenkette heraus, die Donald mir geschenkt hatte.
»Die war bei deiner Kleidung, die sie mir im Gefängnis zurückgegeben haben, aber ich hatte Angst, dass ihr Anblick dich zu sehr aus der Fassung bringt. Soll ich dir beim Zumachen helfen? « , fragte Indira.
» Danke. « Ihr Gewicht wieder an meinem Hals zu spüren, tröstete mich. Meine Finger tasteten danach, wie sie es schon so oft getan hatten.
Indira zeigte auf das andere Kuvert. » Und da drin sind ein Foto von Moh und dir und seine Sterbeurkunde, Anni. Die willst du sicher aufbewahren. «
Ich lächelte. » Danke, Indy, aber ich brauche seine Sterbeurkunde nicht. Mein Sohn ist nicht tot, das weiß ich. «
Astbury Hall, Juli 2011
42
Rebecca legte aufgewühlt das Manuskript beiseite und sah auf die Uhr. Es war nach Mitternacht.
Violet Astbury hatte ihr Kind in dem Bett geboren, in dem Rebecca nun lag. Violet, eine kerngesunde Frau Anfang zwanzig, die sich über Kopfschmerzen und Übelkeit beklagt hatte.
» Hör auf damit! « , ermahnte sich Rebecca, die Panik in sich aufsteigen spürte. » Violet ist bei der Geburt gestorben! « Sie stand auf und lief unruhig im Zimmer hin und her. » Herrgott, Rebecca, du bist nicht schwanger … «
Als ihr einfiel, dass sie nach wie vor auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests wartete, brach sie in Tränen aus. Eines stand fest: In diesem Raum, in dem sich Violets Tragödie ereignet hatte, hielt sie es keine Sekunde länger aus. Voller Panik beschloss Rebecca, nach Ari zu suchen.
Sie verließ Violets Räume, folgte den dunklen Fluren, klopfte an allen Türen und öffnete sie leise, um einen Blick in die Zimmer zu werfen. Weil alle dunkel waren, ging sie auch noch die andere Seite der großen Treppe ab.
Da vernahm sie plötzlich das hohe Singen, das sie aus ihren Träumen kannte. Obwohl Rebecca Angst hatte, näherte sie sich dem seltsamen Gesang, den Anahita als Todeswarnung beschrieben hatte.
Sie hielt auf dem dunklen Flur vor der Tür inne, hinter der sie das Singen hörte, nahm all ihren Mut zusammen, legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie leise hinunter.
Rebecca spähte in das Zimmer. In dem matten Licht machte sie links eine Gestalt vor einem Spiegel aus. Als Rebecca die Tür weiter öffnete, sah sie, dass diese Gestalt vor einem Frisiertisch saß und sich singend die langen blonden Haare bürstete. Der Duft stieg ihr in die Nase, den sie nachts in ihrem Zimmer gerochen hatte – Violets Parfüm. Rebecca drückte die Tür noch ein wenig weiter auf, um das Gesicht der Frau im Spiegel betrachten zu können. Da verstummte das Singen. Die Frau hatte sie bemerkt.
Als sie sich umzudrehen begann, floh Rebecca. Vor ihrem eigenen Zimmer trat jemand aus dem Schatten und zog sie hinein.
Rebecca stieß einen markerschütternden Schrei aus.
» Ganz ruhig! Ich bin’s, Ari « , sagte er, während sie sich nach Luft schnappend seinem Griff zu entwinden versuchte. » Um Himmels willen, Rebecca, was ist passiert? Was hat Ihnen einen solchen Schrecken eingejagt? Bitte versuchen Sie, sich zu beruhigen « , bat er sie, als sie sich mit den Händen auf dem Bett abstützte, um ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
» Ari, bitte, Sie müssen mich hier wegbringen … Ich glaube, ich werde wie Violet vergiftet, und gerade habe ich in einem Zimmer eine fremde Frau entdeckt, die sich singend die Haare bürstet. « Rebecca holte ein paarmal tief Luft. » Ich weiß nicht, ob sie real ist oder ein Geist, aber ich habe sie gesehen, wirklich. Sie war, während ich schlief, in meinem Zimmer … Mein Gott … In dem Raum ist Violet gestorben! « Rebecca sank auf den Boden. » Bringen Sie mich hier weg, noch heute Nacht! Ich habe solche Angst « , wimmerte sie.
Ari kniete neben ihr nieder.
» Rebecca, Sie stehen unter Schock, sind krank und haben möglicherweise Fieber, was Halluzinationen auslösen kann, und … «
» Nein! Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Bitte, Ari « , flehte sie. » Sie müssen mir glauben. Ich bin nicht dabei, den Verstand zu verlieren.
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