Die Mitternachtsrose
Bibliothek, wo Anthony sie in die Mitte des Raums zog, ihr die Hände auf die Schultern legte und sie in Richtung Kamin drehte.
» Schauen Sie sich das Gemälde darüber an. «
Rebeccas Blick fiel auf das Porträt einer jungen blonden Frau, die ganz ähnlich gekleidet war wie sie selbst und ein mit Edelsteinen besetztes Stirnband trug. Doch nicht nur die Kleidung der Frau fiel ihr auf, sondern auch ihr Gesicht.
» Sie sieht aus wie ich « , stellte Rebecca verblüfft fest.
» Ja. Die Ähnlichkeit ist… « , Anthony schwieg kurz, » …frappierend. Als Sie mir heute Morgen mit den blonden Haaren und dem Kleid begegnet sind, dachte ich, ich hätte einen Geist vor mir. «
Rebecca betrachtete die riesigen braunen Augen, das herzförmige Gesicht, das genauso blass war wie das ihre, die kleine Himmelfahrtsnase und die vollen Lippen. » Wer ist das? «
» Meine Großmutter Violet, eine Amerikanerin. Sie hat meinen Großvater Donald 1920 geheiratet und ist zu ihm nach Astbury gezogen. In England und Amerika galt sie als eine der schönsten Frauen der Zeit. Leider ist sie nicht alt geworden, so dass ich sie nicht kennengelernt habe. Und mein Großvater ist einen Monat nach ihr gestorben. « Anthony seufzte tief. » Man könnte sagen, das war der Anfang vom Ende der Astburys. «
» War Violet krank? «
» Wie ihr ging es damals vielen Frauen: Sie ist bei der Geburt ihres Kindes gestorben. «
» Das tut mir leid. «
» Meine arme Mutter Daisy wurde als Waise von ihrer Großmutter aufgezogen. Das da ist meine Mutter. « Anthony deutete auf ein anderes Porträt, das eine schmallippige Frau mittleren Alters zeigte. » Seit Violets Tod wurden die Astburys von allerlei Schicksalsschlägen heimgesucht. « Er wandte sich wieder Rebecca zu. » Sie sind nicht zufällig mit den Drumners aus New York, einer Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sehr wohlhabenden und einflussreichen Familie, verwandt? Violets Mitgift hat dieses Anwesen vor dem Ruin gerettet. «
Anthony sah sie fragend an, doch Rebecca hatte keine Lust, über ihre Vergangenheit zu sprechen, schon gar nicht mit einem Fremden.
» Nein. Meine Familie kommt aus Chicago, und von den Drumners habe ich noch nie gehört. Die Ähnlichkeit muss Zufall sein. «
» Schon merkwürdig, dass Sie hier in Astbury eine Figur aus der Zeit spielen, in der Violet lebte. Und dass Sie ihr noch dazu so ähnlich sehen. «
» Ja, das stimmt, aber ich versichere Ihnen, dass keinerlei Verbindung zu Ihrer Familie besteht « , wiederholte Rebecca.
» Sie können sich vielleicht vorstellen, was für ein Schock es für mich war, Sie heute Morgen an der Treppe zu sehen. Sie müssen meine Reaktion entschuldigen. «
» Natürlich. «
» Ich hatte das Gefühl, Ihnen das Porträt von Violet zeigen zu müssen. Jetzt werde ich Sie nicht mehr länger aufhalten. Würden Sie mir die Freude machen, mir heute beim Abendessen Gesellschaft zu leisten? «
» Danke, gern. Aber nun muss ich wirklich los. Ich werde in einer Stunde am Set erwartet. «
» Ja. « Anthony hielt Rebecca die Tür auf. Sie kehrten schweigend in die große Halle zurück, wo Rebecca sich mit einem Lächeln von ihm verabschiedete und ein zweites Mal die Treppe hinaufstieg, um ihr Handy zu holen. In ihrem Zimmer bekam sie plötzlich wackelige Knie, ließ sich in den Sessel am Kamin fallen, stützte den Kopf in die Hände und atmete tief durch.
Sie hatte ihn belogen. Das Einzige, was sie über ihre leiblichen Eltern wusste, war der Name ihrer Mutter– Jenny Bradley. Und dass Jenny ihre Tochter mit fünf Jahren zu Pflegeeltern gegeben hatte.
Für Rebecca waren ihre Eltern Bob und Margaret– ein freundliches Ehepaar, das Rebecca vom sechsten Lebensjahr an aufgezogen hatte. Die beiden hatten mehrfach versucht, sie zu adoptieren, doch ihre Mutter hatte sich beharrlich geweigert, ihre Einwilligung zu geben, weil sie hoffte, sich eines Tages selbst um ihre Tochter kümmern zu können.
Emotional war es für Rebecca sehr schwierig gewesen, nie die Sicherheit zu haben, nach der sie sich so sehr sehnte. In ihrer Kindheit hatte sie nachts oft Angst gehabt, dass ihre Mutter irgendwann auftauchen, Anspruch auf sie erheben und sie in ein Leben zurückholen würde, an das sie sich nur noch vage erinnerte.
Als Rebecca neunzehn war, hatten Bob und Margaret ihr sanft erklärt, dass ihre Mutter an einer Überdosis gestorben sei.
Ihren Vater hatte Rebecca nie kennengelernt. Sie wusste nicht einmal, ob Jenny eine Ahnung hatte, wer er war.
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