Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
würden. Sie konnte an ein anderes Ende der Welt fahren, mit anderen Freunden, mit anderen Flüssen und Zimmern, in denen sie und ihre Fliese allein schlafen würden, und es fände sich bestimmt auch eine Katze, die sie besuchen käme.
Aber das war nicht nötig. Sie entschied sich für den, der vor ihr stand. Auf ihn würde sie nicht verzichten. Die Details konnte man ja später aushandeln.
»Marianne lebt«, antwortete sie. »So heißt dieses Gesicht.«
Glück ist, wenn wir lieben, was wir brauchen, und wenn wir brauchen, was wir lieben. Und es bekommen, dachte Yann.
»Wirst du mit uns nach Kerdruc zurückkehren?«, fragte er.
»Ja«, sagte Marianne. Kerdruc. Dort war alles, was sie vom Leben erwartete.
Und dann, als ob sie es nicht länger ertragen konnten, sich anzusehen, aber nicht fühlen zu können, umarmten Yann und Marianne sich so heftig, dass ihre Zähne beim Kuss aufeinanderstießen, sie lachten auf, küssten sich sanfter, doch das Lachen war stärker, und so standen Yann und Marianne ineinander verschlungen und lachten, bis der ganze Raum von einem einzigen Lachen erfüllt war.
Epilog
E s ist nur eine Legende, so heißt es. La nuit de samhain. Das Ende des Sommers, der Beginn der schwarzen Monate. Es ist die Nacht, in der sich die Ahnen und die Lebenden versammeln, wenn sich Zeit und Raum übereinanderlegen und in zwölf namenlosen Stunden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ununterscheidbar sind.
In dieser Nacht erscheint die Anderswelt aus den Nebeln, um uns unsere Toten für eine Nacht wiederzugeben. Wir bitten sie, im Jenseits bei den Göttern, Dämonen und Feen nach unserem Schicksal zu fragen.
Doch wenn das Menschliche auf das Elementare trifft, die Helden auf die Hassenden, sollte jeder bei den Seinen bleiben und im Licht – den Kampf zwischen den sich vereinigenden Welten können nur wenige Seelen überstehen. Wer sich verläuft in dunklen Straßen oder an den Wassertoren zur Anderswelt, wird Geistern begegnen, die nur Druiden und Priesterinnen besiegen können; wer es wagt hinauszugehen, wird hinübergezogen in das Reich der Toten und muss ein Jahr bei ihnen bleiben. Kehrt er zurück, wird niemand ihn mehr sehen können.
Dennoch ging Marianne durch diese Nacht ans Meer, um ihren Toten zu begegnen.
Sie hatte das Fest, das zu Ehren der Verstorbenen am Abend des 31. Oktober gefeiert wurde, allein verlassen. Es waren jedoch nicht nur die Toten, derer gedacht wurde – Marianne und Geneviève hatten es zu einem Fest der Frauen gemacht. So wie es die vergessenen keltischen und bretonischen Sagen einst verlangt hatten: Die Liebe der Frauen hob alle Grenzen auf, sie reichte über den Tod und die Zeit hinaus.
Gedankt wurde den Frauen dieser und der anderen Welt mit den brennenden Getreidegarben als Opfer, die nach einer Schweigeminute abgedeckt und gelöscht wurden. Dies war das Zeichen, dass das Sommerjahr vorbei war und ein neuer Zyklus begann, wenn die nächsten Garben entzündet wurden. Auf den Tischen lag jeweils ein Gedeck mehr, ein Stuhl wurde frei gehalten an jeder Tafel. Das war der Platz für jene aus der Anderswelt, die man zu sich bat. Alle Lichter erloschen für eine Minute, damit die Toten ungesehen auf ihre Kähne steigen konnten und sich auf den Weg zu dieser Welt machten. Kerzen in Fenstern wiesen ihnen den Weg.
Jedem der Feiernden war es Aufgabe, sich für verbotene Taten zu rechtfertigen oder anderen die ihren zu verzeihen, und jedem oblag es, eine Liste zu erstellen, was sie bis zur samhuin im nächsten Jahr erlebt haben wollten.
Auch diese Lebensliste war Mariannes Idee gewesen.
Nur Yann hatte Marianne ein Zeichen gegeben, dass er in dieser Nacht der Weltenschmelze nicht auf sie zu warten brauchte.
Yann. Es hatte Nächte mit ihm und Nächte ohne ihn gegeben.
Es hatte Tage voller Musik und Tage voller Trauer gegeben, als sie Sidonies Asche zu den Steinen brachten und zwischen ihnen begruben. Es hatte Stunden voller Wunder gegeben, als Simon sich mit Grete durch die Calvados-Destillerien der Normandie treiben ließ und sie als Paar wieder zurückkamen, und als sich Paul und Rozenn ein zweites Mal das Jawort gaben, und dort auf dem Standesamt hörte Marianne erst seinen Geburtsort: Frankfurt. Paul war Deutscher und dennoch alles andere als das. Als er in die Legion eintrat, streifte er alles ab, was er nicht mehr hatte sein wollen: der Sohn eines SS-Offiziers. Das war das Geheimnis, das sein Leben überschattet hatte. Marianne sprach auch weiterhin nicht ein
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