Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
eine unendliche Furcht, vorzeitig zu sterben. Nicht satt zu werden, bevor ihr letzter Tag gekommen war. Satt vom Leben bis obenhin und über den Rand hinaus. Nie hatte sie so einen Hunger nach Leben verspürt: Ihr Herz drohte zu zerbersten vor Qual, zu viel versäumt zu haben. Nie kam es ihr abtrünniger vor, was sie sich hatte antun wollen: Sie hatte sich selbst hinrichten wollen, weit vor der Zeit.
All das sagte ihr dieses Bild.
Yann legte seine Hand auf Mariannes Rücken, dort, wo ihr Herz pumpte und schlug, wie um zu beweisen: Aber es ist noch lange nicht so weit! Du hast in jeder Sekunde die Chance, dich auf den Weg zu machen. Öffne deine Augen und sieh: Die Welt ist da, und sie will dich.
Marianne drehte sich um und schlang ihre Arme um Yann. Sie hatte mit diesem Mann bisher nicht mehr als vier, fünf Worte gewechselt. Und doch fühlte sie sich, als ob er sie tiefer und besser verstand als je ein Mensch zuvor.
26
M arianne streifte durch den Garten, den sie in der vergangenen Woche gemeinsam mit Pascale zurückverwandelt und in dem sie unermüdlich Stauden, Setzlinge und Samen versenkt hatte: Akelei und Sommerazalee, Mohn und Malven, Oleander und Myrte; sie hatte die Hortensien gekalkt und den Gemüsegarten umgegraben. Die schweren Beerenbüsche standen in voller Pracht, Weißdorn und Anemonen blinzelten unter ihnen hervor, und der Boden war bedeckt mit Ranunkeln, Veilchen und winzigen Erdbeeren, die noch nicht ganz reif waren. Wie sehr sie es liebte, mit ihren bloßen Händen in nackter Erde zu wühlen!
Um genau zu sein, liebte sie alles, was sie tat, seit sie mit Yann auf dem Meer gewesen war. Sie liebte den Zauber dieses Fleckchens Erde, das aus Granit und Quarz, Wasser und Licht bestand. Die Magie war überall, sogar im Butterkuchen.
Gâteau breton, kwig anam. Mehl, frische Eier, reichlich gesalzene Butter, Zucker und Zuckergrieß. Alles zu gleichen Teilen, nicht zu lang geknetet. Magie, sagten einige, sei vonnöten, um den kwig so hinzubekommen, dass er die Seele eines Menschen für immer beherrschte und man niemals vergaß, wo man das erste Stück gegessen hatte.
»Gute Hexen sollten sehr begabt sein im Umgang mit Kuchen«, sagte Pascale zu Marianne und hatte ihr gezeigt, wie sie den gâteau breton zubereitete, aber Mariannes Kuchen schmeckte nie so intensiv und verzaubernd wie der von Pascale.
Sogar die Spülküche im Ar Mor liebte Marianne, die Spülen nie gemocht hatte; sie liebte sogar den verstockten Jeanremy, den sie jetzt jeden Tag nach Feierabend dazu nötigte, einen Liebesbrief an Laurine zu schreiben. Nur abschicken, das traute er sich immer noch nicht. Er bewahrte die Briefe im Kühlhaus in einer alten Salatkiste auf.
Im Steinhaus der Goichons entdeckte Marianne eine Sense; die war genau richtig, um die Wiesen neben der Auffahrt und zwischen den Stechpalmen und Apfelbäumen in Form zu bringen, während die Wachtel und der Pirol ihr ein Lied sangen.
Als sie begann, die Garage freizumähen, sah sie Emile aus der Küche schauen. Sie nickte ihm zu. Heute war sein Zittern besonders schlimm, bemerkte sie; aber sie hatte begriffen, dass es Emile lieber war, wenn sie so tat, als sähe sie es nicht.
Wenig später stand der alte Bretone neben ihr und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie gingen zur Garage, er öffnete sie, und die rostigen Angeln der Flügeltüren knirschten. Im fahlen Dämmerlicht erkannte Marianne einen schneeweißen, alten Jaguar; neben ihr an der Wand eine staubige Vespa, ein Fahrrad und Benzinkanister sowie Gaspatronen.
Emile hielt Marianne einen Zettel hin und kramte Papiergeld aus seiner Hosentasche.
Marianne starrte auf das Papier. Beurre demi-sel, lait, fromage de chèvre, oranges … »Einkaufen?«
Emile warf ihr den Wagenschlüssel zu.
»Monsieur! Je ne peux pas … alors, kann fahren das … truc.«
Emile rollte die Augen und schnalzte unwillig. Er zeigte auf den Wagen. Öffnete die Fahrertür. Wies ungeduldig auf den Sitz.
»Ich … ich kann das nicht! Ich durfte nicht! Ich durfte nie …«
Entnervt schlug Emile die Tür zu.
Marianne fing an zu weinen.
Eine Viertelstunde später lenkte sie die britische Limousine hoppelnd über den schmalen Waldweg.
»Machen Sie die Augen auf!«, herrschte Emile sie an, als der Wagen durch zwei eng zusammenstehende Buchen rumpelte und der rechte Seitenspiegel einknickte.
Sie öffnete ihre Lider.
Marianne hatte so geschluchzt, dass Emile sich wie ein Schwein gefühlt hatte. Schließlich hatte er ihr sein zerknülltes
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