Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
küssten. Bis sie jeden mit Wangenküssen begrüßt hatte, vergingen fünfzehn Minuten.
Irgendwann war sie bei der alten Bigouden-Frau angelangt, die neben einem Tisch mit einer Urne stand. Ihr Gesicht zerfurcht wie ein morscher Ast, schien sie sich mehr auf die Urne zu stützen als auf ihren Gehstock.
In diesem Augenblick erst verstand Marianne, was diese Versammlung zu bedeuten hatte.
Lambig wurde ausgeteilt, und zwei Männer trugen den Tisch auf den Fischkutter an der Mole. Der Kapitän setzte die bretonische Flagge auf halbmast. Der Motor wurde angeworfen, und Yann reichte Marianne die Hand, um ihr über die kurze Gangway zu helfen.
Als der Kutter das offene, rollende Meer erreicht und die laut und schäumend gegen die Klippen und Steine rasenden Wellen hinter sich gelassen hatte, wurde die Asche des Verstorbenen von jedem der Beerdigungsgäste hinaus ins Meer gestreut.
Die Asche fühlte sich an wie feinster Sand, und Marianne hoffte, nicht versehentlich das Herz oder gar ein Auge des Verstorbenen in den Fingern zu halten und zu zerdrücken. Als sie die Asche über die Reling wehen ließ, wünschte sie dem ihr unbekannten Jozeb, dass er in der Anderswelt glücklich werde. Wenn es so war, wie Pascale ihr erzählt hatte, dann war das Meer das größte Tor zu jener Geister- und Götterwelt, in der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart keine Rolle spielten. Das Meer wäre wie eine Kirche und ein Eiland, ein von Schwärze und Zartheit durchdrungenes, letztes Lied.
Einige Männer und Frauen stellten sich zusammen am Bug des Schiffes auf und stimmten ein gwerz, ein bretonisches Klagelied, an.
»La brise enfle notre voile, voici la première étoile qui luit sur le flot qui nous balance. Amis, voguons en silence, dans la nuit tous bruits viennent de se taire, on dirait que tout sur terre est mort …«
Marianne verstand nur mit dem Herzen, was diese Menschen sangen; es sprach so viel Gefühl aus ihnen. Es war eine unendlich hingebungsvolle Ballade, und Marianne spürte Tränen in ihren Augen brennen.
Ihr Herz war übervoll, und sie tastete nach Yanns Hand. Er drückte sie und legte dann seinen Arm um Mariannes Schultern, um sie näher an sich zu ziehen.
Als eine Träne über ihre Wange kullerte und sich an ihrer Lippe verfing, strich ihr Yann zärtlich die salzige Trauer von ihrem Mund und berührte mit seinen Lippen sanft ihre warme Schläfe. So standen sie beieinander und ließen sich treiben.
Für einen Augenblick fühlte sich Marianne, als ob dieser Moment längst von der Ewigkeit beschlossen gewesen wäre. Es war wie das nächtliche Erwachen zwischen zwei Träumen, wo man für einen Moment die Wirklichkeit wahrnimmt, wie sie ist – nicht, wie sie am Tag erscheint. Schicksalsgetauft.
Als sie angelegt hatten, zog der Tross weiter zu Jozeb Pulenns Haus; von den Apfelbäumen hingen Muschelketten, im Garten wuchsen Fohlen – pulenn – aus Holz. Nachdem Yann mit der Witwe gesprochen und ihr zum Abschied die heiligen Worte gesagt hatte – »Jozeb war immer drei Dingen treu geblieben: sich selbst, seiner Familie und der Bretagne« –, reichte er Marianne die Hand, und sie verließen die Beerdigung. Sie glich jetzt mehr einem Sommerfest, die Kinder spielten Fangen und zogen die Katzen am Schwanz.
Im Wagen sahen Yann und Marianne sich für einen Moment an.
»Das … das war wunderschön«, sagte Marianne leise. »Danke.«
Yann atmete erleichtert auf und drehte den Zündschlüssel.
Sie fuhren in seinem Renault weiter nach Quimper, der Hauptstadt des Departements, und besuchten das Musée des Beaux-Arts.
Yann versuchte nicht, Marianne die Bilder zu erklären. Er wollte sehen, wie sich die Bilder ihr erklärten.
Vor Lucien Simons Gemälde – es hieß brûlage de goémon und zeigte Frauen beim Tangbrennen vor der trutzigen Kapelle von Penmarc’h, während um sie herum das Meer schäumte, der Himmel sich duckte und der Wind ihre Hauben und Schürzen aufbauschte – erbebte Marianne. Nicht nur weil die Chapelle Notre Dame de la Joie von Penmarc’h immer noch da war. Und genauso aussah wie 1913, als Lucien sie gemalt hatte. Und immer noch genauso aussah wie vor fünfhundert Jahren, als sie errichtet worden war. Sondern weil diese schöne schlichte Kirche am Meer auch noch da sein würde, wenn es Marianne nicht mehr gab – und Yann, Colette, Lothar und alle anderen von dieser Erde getilgt worden waren; sie alle würden sterben. Nur Steine und Bilder waren unsterblich.
Marianne spürte plötzlich
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