Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
und darüber hinaus gegeben hatte, sollte der massive Sandstein vom Weg abdriftende Wagen aufhalten.
Laurine sah nach Kerdruc hinüber.
»Heimweh?«, fragte Alain leise.
Sie nickte.
Er folgte ihrem Blick über den Fluss zum anderen Ufer.
Für Alain war es der Hafen, in dem er nicht willkommen war, nur dazu verdammt, ihn zu sehen. Und doch. Heute war etwas an diesem Ort, das anders war.
Er lockte. Er schien zu vibrieren. In der blaugedimmten Luft der Dämmerung tanzten Funken, dabei waren es doch nur die Lichter der roten Lampions, die überall baumelten. Dazwischen spielten Schatten miteinander, sich bewegende Schatten, die sich zum Fest der Nacht versammelten.
Plötzlich nahm Alain einen roten Schatten wahr, er kannte dieses Rot. Alain zog aus seiner Brusttasche das Opernfernglas, durch das er in so vielen Nächten der vergangenen Jahre nach drüben gespäht hatte, um wenigstens einen Hauch Geneviève zu erhaschen.
»Genoveva …« flüsterte er; sie trug das Kleid ihrer Verlobung, das Kleid, in dem sie einander lieben lernten; das Kleid war die Fahne, unter deren Banner ihre Leidenschaft in den Krieg gezogen war und verloren hatte.
War das das Zeichen, auf das er seit fünfunddreißig Jahren gewartet hatte? Oder war es eine Verhöhnung: Siehst du, ich habe es geschafft, Alain, dich zu vergessen. Und mich, wie ich war, als ich dich liebte.
Laurine beobachtete ihren neuen Chef; er war gut zu ihr, sanft und klug, aber jetzt hatte der Blick durch das kleine runde Ding da etwas aus seinem Gesicht herausgeschliffen, das sie nur mit dem Instinkt einer liebenden Frau begreifen konnte. Auch Alain Poitier gehörte nicht auf diese Seite der Aven. Sie griff nach seiner Hand. Es war nicht klar, wer sich an wem festhielt, ob Alain an Laurine oder Laurine sich an ihm.
Er gehörte wie sie nach dort drüben, nach Kerdruc, wo in diesem Augenblick zwei Dinge gleichzeitig geschahen: Ein Kleinbus rollte die Abfahrt zum Hafen herab und entließ vier Nonnen sowie einen Pater, und aus einem Taxi stieg ein Mann in grauem Anzug, der sich mit einer Miene umsah, als könne er nicht fassen, wie es ihn an diesen Fleck am Ende der Welt hatte verschlagen können.
»Ist das normal, dass einem dabei so schlecht ist?« Marianne sah mit einem gequälten Gesichtsausdruck von der Gavotte-Musikgruppe zu Grete und wieder zurück.
»Das nennt sich Lampenfieber. Völlig normal. So geht das jedem, sogar André Rieu.« Grete lachte glucksend. »Kommen Sie, Marianne. Sie haben keine Seerose in der Lunge, die Ihnen den Atem raubt. Atmen Sie aus, jeder sollte sowieso öfter ausatmen.«
Sie saßen im Saal der Auberge. Der Chef des Gavotte-Quartetts winkte Marianne herüber. Mit wackeligen Knien zählte sie ihm die Stücke auf, die sie spielen wollte. Da flog ein Schwarm Nonnen durch die Saaltür.
»Schwester Clara!«, rief Marianne beglückt. Und da waren auch Schwester Dominique und père Ballack. Sie liefen mit wehenden Röcken auf Marianne zu und scharten sich um sie. Sie waren nach Kerdruc gekommen, um sich für die Rettung von Schwester Dominique zu bedanken, und hatten ihren Ausflug auf diesen fest-noz- Abend gelegt.
»Ich bin so froh«, sagte Schwester Clara leise, als sie Marianne umarmte. »So froh, dass Ihre Reise ein gutes Ende hatte.«
Alain wusste nicht, was er tun sollte. Die Vibrationen und Schwingungen auf der anderen Seite des Flusses schienen sich verdichtet zu haben; es war nicht nur irgendein bretonischer Hafen mit irgendeinem fest-noz – es sah aus wie ein Heiliger Hain.
Im Moment sah Laurine durch das Fernglas; Alain hatte ihr seine Jacke geholt und um die Schultern gelegt.
»Da ist Madame Geneviève, sie bringt die Stechhähne für die Weinfässer … Und da ist Padrig, der ihr hilft … Und da ist …«, sie hielt inne, räusperte sich, »… Monsieur Paul, er hat sich ganz schön feingemacht. Claudine, oje, sie ist so schwanger, sie platzt bestimmt bald! Ah! Sie zeigen auf Marianne!« Laurine schwärmte. »Sie sieht so schön aus …«
»Und siehst du auch Jeanremy?«, fragte Alain.
»Ich will ihn gar nicht sehen«, sagte Laurine und reichte Alain das Glas. Alain spähte, sah in diesem Moment Geneviève die Stufen der Auberge hinaufsteigen, hinter ihr der Mann im grauen Anzug.
Als dieser seinen Namen auf dem Meldezettel eingetragen hatte und ihn Madame Geneviève reichte, setzte das Beben ein. Sie las den Namen ein zweites Mal.
In dem Aufzug hatte sie ihn nicht erkannt, und auch die steilen Falten, die
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