Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
wenn sie erst mal die alten, aus Konventionen geborenen Träume von Heirat, Kindern, Liebe auf ewig und Erfolg im Beruf beiseitelegte, dann begann das Leben, in dem der Rest erobert werden wollte. Erst wenn jeder seinen wahren Platz im Lauf der Dinge fand, gab er ihm Sinn.
Das Leben war nicht zu kurz. Es war zu lang, um es über Gebühr mit Nicht-Liebe, Nicht-Lachen und Nicht-Entscheiden zu vertun. Und es begann, wenn man das erste Mal etwas riskiert hatte, gescheitert war und feststellte: Man hatte das Scheitern überlebt. Mit diesem Wissen riskierte man alles.
Marianne schnallte das Akkordeon ab. Sie würde zu Yann fahren. Jetzt. Sich ihm und seiner Liebe aussetzen, auch seiner enttäuschten, wenn er sie zurückweisen würde. Dafür, dass sie ihn angelogen hatte, als er nach ihrer Vergangenheit gefragt hatte. Dafür, dass sie ihn verlassen hatte, ohne ihm eine Antwort zu geben, ob sie zurück zu ihrem Mann wolle oder einfach nur weg.
»Yann«, flüsterte sie dem Meer zu und drehte sich um.
Eine einzelne weiße Rose steckte im Sand.
Er musste sie dorthin gesteckt haben, während Marianne ein Lied für das Meer gespielt hatte. Er, der ihr zugehört, zugesehen hatte, wie sie spielte, wie sie weinte und lachte, wie sie das Meer anschrie und wie sie die Töne und Worte suchte und fand.
Marianne zog die Rose aus dem Sand. Roch an ihr.
Auf einem Felsen, ganz nah, saß er. In seinem Gesicht spiegelte sich der Goldschimmer der See, und in seinen Augen brandete das Meer. Er sah sie an, wie sich Marianne noch nie von einem Mann angesehen gefühlt hatte. Sein Blick ruhte so intensiv auf ihr, dass sie sich fühlte wie eine Insel.
Er war gefasst und fassungslos. Als ob er sie schon immer gekannt hatte, die ganze Zeit, als er nach ihr gesucht hatte.
Marianne fand es nicht länger seltsam. Sie selbst hatte gerade etwas gefunden. Hier, am Ende der Welt. Im Spiegel des Meeres hatte sie etwas gesehen: sich selbst. Und wie sie einst gedacht war.
Nie wieder. Nie wieder ohne all das.
Als sie einen Schritt auf dem schweren Sand auf ihn zutrat, erhob er sich und ging auf Marianne zu.
Sie ließ das Akkordeon zu Boden gleiten und flog in seine Arme.
»Yann!«, rief Marianne und wieder »Yann!«.
»Salut, Mariann!«, sagte Yann Gamé, und er umschlang sie mit all seiner Kraft und seiner Liebe.
Als er seine Geliebte beobachtete, erneuerte er ein Versprechen mit sich, das er lange vergessen hatte: nichts Triviales mehr. Alles sollte auf der Höhe der Leidenschaft, des Lebens sein; wer etwas Höheres nach dem Leben erwartete, der vergaß, dass das Leben bereits das Höchste ist. Yann hatte es vergessen, und er wollte wieder mit aller Kraft und ohne Scheu leben. Lieben. Malen. Lieben. Nichts Triviales mehr, das sein Blut ermüdete und seine Seele beleidigte.
Er wollte Marianne sagen, dass er verstand. Dass es ihn zwar für Stunden nahezu umgebracht hatte, dass sie gegangen war ohne Erklärung. Doch dann hatte er verstanden. Einundvierzig Jahre Ehe ließen sich nicht in ein paar Liebesnächten unter seinen Händen auflösen. Diese Frau hatte ihr Leben abgestreift, aber es hing immer noch an ihr und ließ sie nicht los.
Wie auch?
Sie hatte mehr Mut besessen als alle, die Yann jemals getroffen hatte; sie war mit nichts als ihrem Willen in eine fremde Welt hineingegangen. Sie hatte ihren eigenen Todeswunsch besiegt.
Aber unter all dieser Kraft war auch die andere Marianne. Die Verletzte. Die Kriegerin, die schwere Wunden verbarg und die es sofort tödlich verwunden konnte, wenn sie aufgerissen wurden.
Und dieser Mann da, ihr Ehemann, hatte sich mit seiner Fernsehaktion direkt in sie hineingebohrt und sie an alle Narben erinnert.
Yann hatte verstanden. Und dass sie nun hier in seinen Armen lag, erschütterte ihn ein zweites Mal.
Er betonte jedes Wort, das er in Mariannes Ohr flüsterte mit einer Stimme, die weder Widerspruch duldete noch um Einverständnis bat. »Ich werde heute Nacht nicht ohne dich sein. Und in allen, die noch folgen.«
Sie sah zu ihm auf. »Wieso warten wir erst auf die Nacht?«
Sie fuhren zu der Insel von Raguenez, am Nordende des Plage Tahiti, die bei Ebbe zu Fuß erreichbar war. Dort schliefen Marianne und Yann miteinander, bevor die Flut kam. Sie waren auf einer Insel, die nur sie kannten.
Als sie später auf die rollenden Wogen sahen, die sich an die Klippen warfen, fragte Yann: »Willst du deinem Mann irgendwann sagen, dass du lebst? Dass du nicht wiederkommst? Dass du frei sein willst, ob für
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