Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
mich oder für dich?«
Marianne schwieg ein Weilchen. »Ja«, sagte sie dann. »Irgendwann, bestimmt.«
40
C olette war zu Sidonie gezogen. Um sie zu lieben. Um wieder geliebt zu werden. Im Angesicht der sicheren Vergänglichkeit ihrer Liebe fühlte sich Colette zum ersten Mal im Leben komplett. Nichts fehlte mehr. Es war alles da. Es war immer da gewesen, nur hatte sie es nicht gewusst. Die Liebe zu den Frauen.
In der zweiten Woche nach ihrem Einzug hatte Sidonie Colette gebeten, sie zu den Steinen zu bringen, die sie immer schon berühren wollte. Stonehenge. Die wandernden Steine von Death Valley. Die magischen Paläste von Malta und die Opfersteine in Palästina.
Ihr Arzt verbot Sidonie, zu reisen. Colette tobte, Colette bettelte, er blieb hart, er sprach vom baldigen Tod durch Erschöpfung, und Colette schwieg.
Es änderte sich alles in letzter Zeit. Als ob der ruhige Mahlstrom der vergehenden Tage erwacht war und die Schlagkraft seiner Schicksalswürfe erhöhte, wie um etwas aufzuholen, was nicht aufzuholen war: die Vergangenheit.
Während um sie herum Sommer war, die Augusttage des Finistère in gleißendes Licht getaucht, die Zahl der Touristen von Tag zu Tag anschwellend, richteten sich ihre Leben auf einen neuen Kurs aus.
Wenn Marianne nicht in der Auberge oder bei den Goichons arbeitete, stand sie vor Sonnenaufgang auf, um am Meer Akkordeon zu spielen und der Stimme des Meeres zu lauschen, die ihr Geheimnisse verriet; Geheimnisse, die älter waren als die stehenden Steine. An ihren freien Tagen und Abenden traf sie Yann, und sie besuchte sooft es ging Sidonie und Colette. In Mariannes Umarmungen fand die Steinmetzin Frieden.
Marianne erzählte ihr, was das Meer und seine Herrscherin Nimue ihr in ihren heimlichen Zwiegesprächen zugeflüstert hätten: dass Tod und Leben wie Wasser seien, nichts verlorengehe. Ihre Seele würde durch die andere Welt fließen und an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wieder ein Gefäß finden. Ein Umschöpfen der Seelen.
Eines Nachmittags waren Colette und Sidonie nicht mehr da gewesen. Eine Woche später kam Colettes Anruf aus Malta. »Das Leben ist sowieso das größte Risiko, um zu sterben. Also sollte man vorher leben, n’est-ce pas?«
Sie waren einfach losgefahren. Hatten ein paar Tage in Paris bei Sidonies Kindern verbracht; mit dem Wissen, sie würden einander nie mehr wiedersehen.
Sidonie hatte auf diesem Abschied bestanden; ihre Kinder sollten ihr nicht beim Sterben zusehen. Sie wollte ihnen sagen, wie sehr sie sie liebte, wie stolz sie auf sie war, und sie feierten in Paris ein Fest, drei Tage lang, bevor sie sich auf den Weg zu den schönsten Steinen der Welt begaben.
41
A b 20. August würde das Land seine Besatzungsmächte verlieren – die französischen Touristen würden das Ende ihrer Bretagne-Ferien mit einem der letzten fest-noz feiern und dann zurückkehren nach Paris, in die Provence, in die kalten Städte, ins Landesinnere und vom Sommer im Finistère träumen.
»Verrückt«, würden sie sagen, »weißt du noch, diese Fischessen? Die Trachten der Leute beim Festival des Filets Bleus, dem Fest der blauen Netze in Concarneau? Dieses morgana, dieses Bio-Bier, aus der Brauerei Lancelot? Und der pardon, wo sie mit den Hüten herumliefen und sich alles Mögliche verzeihen lassen wollten? So ursprünglich!«
Bis zu diesem Datum konnte man in jeder Nacht mehrere Feste besuchen; jedes größere Dorf rief zum Tanz auf der Straße, die dafür mit einem Boden aus Holz ausgelegt wurde. Die Gavotte-Tänze schlossen niemanden aus – je größer der Kreis, desto größer der Spaß, und desto stiller war es danach in den Wäldern und Straßen, wenn sich zufällig Liebende Mühe gaben, nicht zu laut zu sein.
Das fest-noz in Kerdruc musste in seiner Nacht mit den Tanznächten von Raguenez, Trévignon und Cap Coz konkurrieren, wo es die Touristen hinzog, die keltische Musik, bretonische Musikgruppen und chinesisches Feuerwerk sehen wollten.
Am Nachmittag vor dem fest-noz klopfte Geneviève Ecollier an Mariannes Tür und bedeutete ihr mit aufgeregtem Lächeln, ihr zu folgen.
Sie nahm Marianne mit in das Zwischengeschoss, öffnete die verborgene Tür, die zu dem Raum mit den Kleidern führte. »Suchen Sie sich eines aus«, bat Geneviève. »Eine Musikerin soll leuchten.«
Marianne würde am fest-noz spielen. Sie würde die Lieder, die sie bisher mit dem Meer geteilt hatte, mit den Menschen teilen; und Geneviève wollte, dass etwas von ihr dabei
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