Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Marianne.
Dann schluckte die Nacht das Rot.
Marianne wünschte sich, genauso unsichtbar zu werden.
Wo sie noch vor einer halben Stunde dachte, sich in jeder Sache ihres Lebens sicher zu sein – Akkordeon zu spielen, in Kerdruc zu bleiben, Yann zu lieben – so war nun alles verpufft in grobe Asche, die ihr die Nase und die Ohren und den Mund verstopfte. Und das alles in den wenigen Augenblicken, als Lothar ihr den Rettungsring aus der Hand genommen hatte. Als ob er sie enttarnt hatte, als das, was sie in Wirklichkeit unter dem Kleid, unter der Schminke und all diesem Talmi war.
Eine Hand in einem Lederhandschuh griff nach Mariannes Oberarm. Colette! Sie und Marianne umarmten sich fest und zärtlich. Dann sah Marianne suchend hinter Colette.
»Sidonie ist nicht mehr hier«, sagte die Galeristin leise. »Sie weiß, dass sie heute Nacht Ankou treffen wird. Sie hat mich fortgeschickt. Ich sollte das Leben feiern, sagte sie.«
In Marianne stand die Welt still. Ihre Seele duckte sich.
»Was soll ich tun?«, hauchte Colette.
Marieclaudes Tochter Claudine drängte sich zwischen sie, ohne darauf zu achten, dass sie störte.
»Sagen Sie mir, ob es ein Junge wird«, verlangte sie von Marianne. »Meine Mutter sagt, so was können Sie«, und legte Mariannes Hand resolut auf ihren Bauch, der ihr bis knapp unter die Brüste reichte.
»Es wird ein Mädchen«, sagte Marianne mit einer Stimme, die aus einem Grab zu kommen schien.
44
M arianne schob die Hände, die sie in der Auberge, auf der Mole, auf dem Weg zum Wagen halten wollten, zur Seite; Yanns Hände, Lothars Hände, die Hände der Nonnen. Die Hände der fest-noz -Gäste, die ihr danken wollten und sich fragten, warum Mariannes Wolfsaugen so erloschen schienen und warum sie nicht sprach, sondern in die Nacht hinauseilte.
Colette versuchte, auf der raschen Fahrt Einspruch zu erheben; Sidonies Wille wäre zu akzeptieren, wie jeder letzte Wunsch.
Marianne stieß, ohne Colette dabei anzusehen, hervor: »Ich habe vierhundertachtunddreißig Menschen sterben sehen. Keiner von ihnen wollte dabei allein sein.«
Sie fanden Sidonie in ihrem Atelier. Ihre Hand umkrampfte einen Kieselstein, den sie in Malta aufgelesen hatte, an Tempeln, älter als die Pyramiden. Ihr fiel das Atmen sichtbar schwer, doch sie schloss die Augen nicht, solange es ging, und heftete ihren Blick auf Colette. Auf ihre Augen, ihren Mund. Ihre Seele.
»Danke«, flüsterte Sidonie. »Danke … dass du nicht auf mich gehört hast.«
Diese Frau trug das Gesicht, das Sidonie am letzten aller Tage hatte sehen wollen. Immer schon. Immer, seitdem Sidonie die Galeristin das erste Mal gesehen hatte. Und Colette war zurückgekommen zu ihr, als Sidonie sie hatte gehen lassen.
»Das ganze Leben ist doch Sterben, vom ersten Atemzug an geht es … in dieselbe Richtung, den Tod … den Tod«, sagte Sidonie mit einer Stimme, die von weit her zu kommen schien.
Jetzt hielt Marianne Sidonies freie Hand. Die kalten Ströme, die Marianne bis in die Arme, den Nacken und bis in ihr Herz spürte, machten ihr keine Angst. Sie erkannte sie wieder.
Es war der eisige Fluss des Todes, der alles Fließende erstarren ließ und die innere Wärme eines Menschen erstickte. Das Ich vernichtete.
Sidonies Lider bebten, und sie richtete sie auf. »Die Steine«, flüsterte sie matt Colette zu. »Sie singen.«
Colette schaffte es nicht. Sie verzweifelte. Sie weinte und griff nach Sidonies Hand, aber Sidonie versuchte, sie zu entziehen, um sie wieder um den Kiesel zu schließen.
So verschränkte Colette ihre Finger über Sidonies, der Stein zwischen ihren Handflächen, Marianne griff nach Colettes freier Hand, und die drei Frauen gingen so Hand in Hand ein Stück zusammen bis zu der Grenze. Von dort aus musste Sidonie alleine gehen, wie jeder vor ihr und jeder nach ihr gehen würde.
Sie lauschten Sidonies flachem Atem.
Und dann, als ob sie bereits in die Nebel der Anderswelt sah, flüsterte sie erstaunt den Namen ihres Mannes: »Hervé?« Sie lächelte. Glücklich, als ob sie einen Blick in die Ewigkeit geworfen hatte; und was sie gesehen hatte, das nahm ihr jede Furcht.
Das eisige Prickeln unter Mariannes Hand, dort, wo sie Sidonie festhielt, brach so plötzlich ab wie eine Klippe am Rand des Meeres. Der Kiesel fiel klappernd zu Boden.
Sidonie war gegangen.
Es war weit nach vier Uhr, als Marianne Colette und Sidonies verlassene Hülle allein ließ und sich zu Fuß auf den Rückweg nach Kerdruc machte. Sie fror in dem
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