Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
ins Ohr.
Das Kind schrie nicht.
Claudine sah Marianne mit wildem Blick an. Sie bäumte sich auf, und ein Schwall Blut und Fruchtwasser brach aus ihrem Uterus.
Grete hielt sofort die Nabelschnur höher und drückte ihre Hand auf Claudines Nabelgegend. Mariannes Blick fiel auf Sidonies Kiesel. Sie nahm ihn hoch, öffnete eines der winzigen Fäustchen des Neugeborenen und schob den Stein zart hinein. Marianne spürte, wie sich etwas in dem kleinen Körper entlud wie vorhin die Blitze am Himmel: lautlos, aber gewaltig.
Sidonie?, fragte Marianne stumm. Bist du es?
Das Mädchen füllte seine Lunge mit Luft, die Wangen färbten sich rot, und mit einem Mal setzte es zu einem bejahenden Schrei an.
Vor den Fenstern ertönte ein gewaltiger Donnerschlag.
Die Männer lachten erleichtert auf, und Marianne legte das Kind Claudine auf die Brust. Die junge Französin umschlang es zärtlich, und in ihrem Blick lagen Erstaunen, Dankbarkeit und Scham.
Grete riss die Schleifchen ihres Nachthemds herunter und band damit die Nabelschnur an zwei Stellen ab, Marianne durchschnitt dazwischen die nährende Leitung mit der sterilen Verbandsschere. Sie würde die Nabelschnur morgen unter einem Rosenstrauch vergraben. Sicher war sicher.
Claudines Gesicht hatte seine Farbe zurückgewonnen, und Marianne stand auf, um ihr ein Glas kaltes Wasser zu holen, während Grete weiter mit dem Nabelgriff die Blutung stoppte.
Plötzlich war Marianne unendlich müde. Die Ereignisse des Tages hätten auch mühelos in ein paar Jahren Platz gehabt. Die Göttinnen hatten ihr bewiesen, dass Leben und Tod in einen Tag passten und manchmal nicht zu unterscheiden waren.
Ein Trupp Sanitäter kam in die Küche gerannt. Endlich!
Marianne griff nach dem Cognac, trank die Hälfte und reichte das Glas an Grete weiter. Die trank den Rest. Marianne sah zu Lothar und von ihm zu Yann. Beide standen sie da, als ob sie irgendetwas von ihr erwarteten.
Yann bewegte sich als Erster, zog seine Jacke über sein Unterhemd, küsste Marianne weich auf die Stirn und flüsterte: »Je t’aime.«
Lothar zog sich die Krawatte aus, öffnete die Knöpfe seines Kragens und fragte: »Soll ich auch gehen? Und nie wiederkommen?«
»Als ob das in diesem Moment nicht ganz und gar ohne Belang wäre …«, raunte Grete so leise, dass es fast niemand hörte.
»Lothar. Geh doch einfach ins Bett«, sagte Marianne erschöpft.
»Ich weiß nicht mehr, wer du bist«, erwiderte Lothar.
Ich auch nicht, dachte sie.
»Aber ich möchte es gern herausfinden«, sagte er leise. Bittend. Als Marianne nicht antwortete, strich er ihr zärtlich über ihre Wange und ging.
»Ich frag mich ja, wer Victor ist«, sagte Marianne nach einer Weile.
Der Name ließ Claudine hochschrecken. Marianne fing eine stumme Bitte auf, die Claudines Blick formte.
Als der Arzt Claudine versorgt hatte, kam er zu Marianne und schüttelte ihr die Hand. »Bon travail, Madame.«
Dann zückte er einen Bogen Papier, um alle Daten einzutragen; Geburtsort und -zeit, die Anwesenden. Vater?
»Unbekannt«, sagte Marianne fest.
Der Arzt drehte sich zu Claudine um. »Stimmt das?«
Die nickte mit aufgerissenen Augen.
»Haben Sie schon einen Namen, Mademoiselle?«
»Anna-Marie«, flüsterte Claudine und lächelte Marianne zu.
Sidonies Kiesel ruhte zwischen Claudines schweren Brüsten, neben dem Gesicht des Mädchens. Der Stein war das Erste, das Anna-Marie sah, als sie die Augen aufschlug.
In Rozbras stand eine junge Frau immer noch an einer Steinmauer.
Sie fühlte sich allein, aber nicht einsam. Laurine erkannte, dass sie nie einsam sein würde, solange sie fähig war, auch nur einen Schritt zu tun. Sie bewahrte sich jedoch diesen Schritt auf, um herauszufinden, auf wen sie ihn zugehen sollte. Das Leben mochte zwar oft für sie entscheiden, doch ihr das Gehen nicht vollends abzunehmen.
Als Padrig neben ihr den Peugeot ausrollen ließ, sah sie immer noch nach Kerdruc. Padrig nahm Laurine mit und führte sie an einen Ort voller ungeschenkter Blumen und ungelesener Briefe.
45
D as Gewitter hatte einen strahlenden Tag geboren.
Als Marianne nach nur wenigen Stunden Schlaf an ihr Fenster trat und es der Augustsonne öffnete, sah sie unten auf der Mole, wie Geneviève, Alain, Jeanremy und einige der Nonnen dabei waren, eine lange Tafel mit weißen Tischlaken zu decken. Geneviève und Alain neckten einander wie spielende Kinder und berührten sich ständig, als ob sie sich vergewissern wollten, dass der andere nicht nur
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