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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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doch es war das, was ich wusste. Ich mochte es und nannte es
Die Pilger von Templeton.
Ich fertigte eine Reinschrift für mein Tagebuch an.
    Eines Tages jedoch kehrte ich spät ins Büro zurück und stellte fest, dass mein Tagebuch aus dem Geldschrank verschwunden war, in dem ich es aufbewahrte. Da fiel mir ein, wie ich an jenem Nachmittag an meines Vaters Schreibtisch im Herrenhaus gesessen und, ähnlich einem sanften Plätschern oder dem Summen einer Fliege im Raum, unten im Erdgeschoss meinen Bruder mit meiner Mutter reden gehört hatte, wie er ihr von einer groß angelegten Geschichte erzählte, die er schreiben würde, der größten überhaupt. An jenem Abend im Büro starrte ich den leeren Geldschrank an und spürte eine ganze Stunde lang, wie sich ein roter Schleier über meine Augen legte. Hätte er vor mir gestanden, ich hätte meinem Bruder eigenhändig den dünnen Hals umgedreht, hätte mit Freuden gespürt, wie das Leben aus ihm entwich, hätte seinen schwächer werdenden Puls gefühlt. Ich würde seinen Töchtern den Vater nehmen. Ich würde mir die Hände mit Blutbeflecken. Denn ich hatte begriffen, was geschehen war: Mein Bruder, der meinen Vater verehrt hatte, hatte meine Worte gelesen und war schockiert von dem, was ich geschrieben hatte. Er wusste, dass seine Version der Geschichte diejenige war, die die Zeiten überdauern würde. Andere Sichtweisen, die seinen Vater betrafen, beseitigte er einfach. Er ertränkte meine Geschichte wie ein ungewolltes Kätzchen.
    Am Ende jedoch brachte ich es nicht fertig, ihm etwas zu tun. Er war mein Bruder, und Blut war dicker als Wut. Ich saß am Abendbrottisch, lauschte dem Geplänkel der Töchter meines Bruders, hörte, wie er sich seinem Tagesgast gegenüber – sie hatten stets Gäste – mit seiner neuen Geschichte brüstete. Ein Meisterwerk, verkündete er. Über unseren Vater, den großen Mann, über Marmaduke. Meine Mutter schnatterte vor Freude, Sophie träumte laut von der Kutsche, die sie kaufen würde, wenn er das Buch verkaufte. Jacobs Augen huschten zu mir herüber; wir waren wieder Kinder; er forderte mich stumm dazu heraus, ihn ja nicht zu verraten. Ich sagte nichts. Stillschweigend segnete ich meinen Bruder. Ich hoffte, er würde wohlhabend und glücklich. Dann aß ich meinen Seebarsch und mein Wurzelgemüse. Schließlich fuhr ich nach Hause nach Edgewater, in mein Backsteinhaus am See, das Haus, das ich für Anna und die Schar von Kindern gebaut hatte, die wir uns immer erträumt hatten. Die Bediensteten waren zu einem Tanz ausgegangen, und in dem leeren Haus hallte es.
    Stundenlang, während die Nacht langsam abgespult wurde, saß ich da in der Stille, schwach, vom Kummer zerfressen. Ohne die Seiten, in die ich meinen ganzen Zorn entleeren konnte, spürte ich, wie er schwarz und zäh in mir wurde. Früher oder später würde er mich auffressen, das wusste ich. Schon jetzt, das spürte ich, hatte er seine Mahlzeit halb hinter sich; und bald, zu bald, das wusste ich, würde er sich auch noch über das hermachen, was von mir übrig war.

Einige Fäden werden gezogen
    In der Bibliothek wurde mir wenige Tage nach der Trennung meiner Mutter von Reverend Milky bewusst, dass Jacob Franklin Temple fast nie über Frauen schrieb. Oder, genauer, er schrieb über ein paar weibliche Pappkameraden, die in seinen Romanen nötig waren, um den natürlichen Edelmut seiner männlichen Charaktere hervorzuheben. Seine indianischen Pfadfinder waren ebenso edelmütig wie schweigsam; seine Matrosen edelmütig und dem Gesang zugetan; seine Lords edelmütig und höchst verfeinert; und seine beste Figur, Natty Bumppo, war einfach nur edelmütig. Selbst Natty Bumppos Gewehr war eine besonders edle Büchse mit langem Lauf.
La longue carabine
wurde es genannt.
    Seit meinem bislang einzigen Sommer der Jacob-Franklin-Temple-Manie, als ich ein Teenager und mit einem glühenden Stolz auf unseren heimatlichen Dichter und Blutsverwandten erfüllt gewesen war, hatte ich nichts mehr von meinem Vorfahren gelesen. Damals überquerte ich oft mit dem Buch, in dem ich gerade las, die lange Rasenfläche, die zum Seeufer hinabführte. Dort stand, sozusagen in unserem Hinterhof, eine alte Weide, die vor sehr langer Zeit von einem Blitzschlag getroffen und gefällt worden war und eine ganz natürliche Festung von vier Meter Durchmesser bildete, wohin ich mich entrückt zurückziehen konnte, bis es Zeit für das Mittagessen war. Damals las ich, weil ich an der Handlung interessiert war, und

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