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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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meine Sachen zu packen und das Weite zu suchen. «Kommt ein Pferd in den Blumenladen und fragt: Ham Se Ma-ge-ritten?», witzelte sie. «Und wie heißt der chinesische Sportminister? Do Ping.» Während sie das sagte, begleitete sie mich mit dem Fahrstuhl nach unten. Ich drückte Clarissa einen Kuss auf den Kopf, als ich in den Wagen stieg. «Irgendwie ist das schon krass», sagte sie, schnorrte sich eine Zigarette und blies den Rauch in meine Richtung, «dass ich jetzt vom bösen Wolf gefressen werde. Rotkäppchen hab ich mir immer anders vorgestellt.»
    «O Mann, Clarissa», sagte ich. «Der war aber lahm.»
    «Ach, ich muss erst wieder ein bisschen üben», sagte sie und zuckte die Achseln.
    Im April, an dem Tag, bevor Clarissa ihre sauteure Therapie mit monoklonalen Antikörpern anfangen würde, saßen wir in ihrer Frühstücksecke, als sie ihre Kaffeetasse abstellte. «Ach, verdammt. Machen wir’s einfach», sagte sie.
    «Ich bin dabei», sagte ich. «Was auch immer es ist. Was machen wir denn?»
    «Rasieren. Wir rasieren alles ab. Gehen an unseren Lieblingsplatz und rasieren meine Haare ab. Warum auch nicht, zum Henker.»
    «Warum willst du das machen?», fragte ich verblüfft.
    Sie schaute mich an, runzelte die Stirn und sagte: «Weil ich es
kann,
Willie. Ich hab’s immer gewollt und mich nie getraut. Jetzt trau ich mich. Außerdem», fügte sie hinzu, «gehen mir die Haare aus», und zeigte mir ein kleines lockiges Büschel in ihrer Hand.
    «Na gut», sagte ich, und wir nahmen unsere Sachen und verließen das Haus. Wir gingen in den Tulpengarten im Golden Gate Park, saßen da in dem starken Wind vom Meer, und ich schnitt all diese prachtvollen Korkenzieherlocken von Clarissas Kopf, die sprangen und hüpften, als sie auf dem Boden auftrafen. Anschließend fuhr ich mit dem Rasierapparat über ihren Schädel und rieb eine Lotion ein, bis die Kopfhaut glänzte. Und dann, während sie sich noch mit den Händen über ihre frisch geschorene Glatze fuhr, während sie die Augen schloss und inmitten all dieser rotgoldenen Tulpen plötzlich sehr krank aussah, hob ich die Hand mit der Schere und schnitt eine lange Strähne aus der Mitte meines eigenen Schopfes. Als Clarissa wieder die Augen öffnete, trug ich einen umgekehrten Irokesenschnitt: Meine langen, dunklen Haare waren immer noch da und fielen mir seitlich und hinten über die Schultern, nur in der Mitte, wo früher mein Scheitel gewesen war, klaffte ein breiter Streifen nackte Kopfhaut.
    Sie sah zuerst entsetzt aus, dann begann sie zu kichern. «Das würdest du für mich tun? Du würdest
das
für mich tun?»
    Ich grinste und schnippelte noch ein bisschen was ab. Clarissa rasierte mir kichernd den Rest des Kopfes.
    Als wir über die Golden Gate zurückkehrten, am Golfplatz und an den Bisons vorbei, kitzelte der Wind unsere kahlen Köpfe, und wir hielten Händchen. Und in dieser Stadt der Freizügigkeit grinsten uns die Leute an, weil sie uns für etwas hielten, was wir nicht waren. Ein barbrüstiger Rollerblader zog endlose Kreise um uns, während wir weitergingen, und dann fuhr er breitbeinig eine weitere Runde, streckte die Arme aus und rief: «Ach, ich liebe diese Stadt. Hand in Hand, und es ist Frühling», sang er. «Zwei verliebte glatzköpfige Ladys.»
    In der Nacht, nachdem ich nach Templeton zurückgekehrt war, war es die Macht der Gewohnheit, die mich bei Clarissa anrufen ließ. Erst als bei ihr das Freizeichen zu hören war, wurde mir bewusst, dass ich gewählt hatte, dass ich den Hörer an mein Ohr drückte, dass ich anrief. Doch bevor ich wieder auflegen konnte, hörte ich Clarissas kehlige dunkle Stimme, die sagte: «Ich schau mir gerade einen Film an, also wer auch immer da anruft, hat besser einen triftigen Grund.»
    Sie hörte sich nicht besonders gut an, jedoch besser, als ich befürchtet hatte, schwach, aber lebhaft. Unwillkürlich musste ich lächeln. Ich holte tief Luft. «Oh», sagte ich. «Mach dir keine Sorgen, Clarissa-Schatz. Einen besseren Grund gibt’s gar nicht.»
    Nachdem sie zuerst vor Freude jauchzte, weil ich wieder zu Hause war, und mich dann anschnauzte, weil ich zu Hause war und sie nicht gleich angerufen hatte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte.
    Von Dr. Primus Dwyer wusste sie bereits, dass er mein Seminarleiter war, seit ich damals mit der Graduate School begonnen hatte, dass er ein hohes Tier war und dass ich ganz aufgeregt gewesen war, als er mein Tutor und später mein Doktorvater wurde. Wenn überhaupt

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