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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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Absolventin des berühmten Smith College, eine fleißige Schreiberin. Niemand hat diese Tagebücher je gelesen – die warten hier die ganze Zeit auf denjenigen, der Sys Biografie schreibt.»
    «Oh», sagte ich, und mein Herz vollführte ein nettes kleines Tänzchen in meiner Brust. «Danke. Kann ich das heute Abend mit nach Hause nehmen?»
    Sein Gesicht wurde ganz verkniffen vor Bedauern. «Tut mir furchtbar leid», sagte er. «Sachen aus der Sondersammlung müssen hierbleiben.»
    «Ach bitte», flehte ich. «Nur eine Nacht!»
    «Miss Upton …», begann er.
    «Willie», korrigierte ich ihn.
    «Willie», sagte er. «Tut mir leid, aber das geht nicht.»
    «Und wenn ich ganz artig bitte bitte sage?», versuchte ich es erneut.
    Er sah beunruhigt aus und schaute sich rasch in den dunklen Ecken der Bibliothek um. «Na gut», flüsterte er und spähte in Richtung der Ziegenfrau, die sich hinten an einem Wagen und ein paar Büchern zu schaffen machte. «Na gut, weil du’s bist. Und wegen deiner Familie. Ich dürfte das eigentlich nicht tun, aber na gut.» Dann schaute er mich mit seinen riesigen Augen an und gab ein seltsames Kichern von sich, während ich aufstand und das Buch in meine Tasche gleiten ließ.
    «Morgen bring ich’s wieder zurück», sagte ich. «Vielen lieben Dank, Peter Lieder», und dann war ich blitzschnell aus der Tür, bevor er es sich anders überlegen konnte. Draußen, in einer Schwade Rosenduft von den Sträuchern neben der Tür, stellte ich mir den kleinen Bibliothekar vor, wie er in der Tür hinter mir stand und mit wachsendem Unbehagen die Stirn runzelte und sich die Hände rieb wie ein Streifenhörnchen.
    Ich sah es erst, als ich an jenem Abend nach Hause kam und in mein Zimmer hochging. Doch da war es, wie eingerahmt von einem Fenster, im Zwielicht, ebenso surreal wie eindringlich: Das Ungeheuer hing mitten in der Luft, von einem Kran angehoben. Sein Hals war nach hinten abgeknickt, sodass es den Kopf in Richtung Osten, den Bergen zu, hielt, während seine Arme und Beine zum Boden herunterhingen, der lange, zarte Schweif, der außerhalb des Wassers irgendwie ramponiert und unschön aussah, wie ein einziges längliches Komma.In dieser Haltung, den buttergelben Bauch gen Himmel gereckt, wirkte das Ungeheuer zwar riesig, aber verletzlich. Wasser rann vom Körper in den See; lange, silbrige Fäden in der Dämmerung.
    Und dann zog der Kran mit einem gewaltigen mechanischen Ächzen das Tier in die Höhe, bis es über dem Tieflader mit doppeltem Aufbau hing, auf dem es transportiert werden sollte, und begann es herunterzulassen. Der Wind, der vom See hochwehte, brachte einen neuen Geruch mit sich, der fischig und pflanzlich zugleich war, einen düsteren, fauligen Gestank. Als ich den Blick vom Fenster abwandte, spürte ich den Geist, der dort hockte. Seine Farbe war ätherisch-mitternachtsblau, und er schien die Zähne zusammenzubeißen. Er war wütend, das spürte ich deutlich. Ich erinnerte mich, wie kalt sich das Ungeheuer angefühlt hatte; an seine große Traurigkeit, die noch an dem Kadaver sichtbar war, und ich verstand, warum der Geist zornig war.
    Jetzt, wo das Ungeheuer nicht mehr im See war, war etwas zu Ende gegangen. Traurigkeit hüllte mich ein wie ein samtener Vorhang, und ich drückte auf die Stelle, wo sich das Klümpchen befand, spürte sein Pulsieren.
    Als ich noch klein war, hatten Bücher mir als Schutzschild gedient. Wenn mir dann mitten beim Lesen mein Kummer wieder einfiel, hatte er stets an Bedeutung verloren. Mein körperliches Leben war unerheblich; was zählte, war das faszinierende Treiben in meinem Kopf. Zu Büchern zurückzukehren war, wie wenn man nach Hause kommt.
    Und so saß ich an jenem Abend mit meinem wütenden Geist auf dem Bett, hörte meine Mutter, die unten Abendessen machte, und griff schließlich nach Sarah Franklin Temples Tagebuch und las. Als sie mit dem Schreiben dieses Bandes begann, hatte sie gerade ihr Studium abgeschlossen, und ihre Worte waren so seltsam, dass ich mich in ihnen verlor. Vi musste dreimal nach mir rufen, ich solle runterkommen. Schließlich stand sie höchstpersönlich vor mir und nahm mir das Büchlein aus den Händen.
    Ich blickte auf, eifrig, erregt. «Deine Großmutter», sagte ich, «war vollkommen verrückt.»
    «Willie», erwiderte sie und unterdrückte ein Lächeln. «Ich freue mich so, dass du dich in dein Projekt gestürzt hast. Aber selbst große Gelehrte müssen etwas essen.»
    «Vi?», fragte ich. «Warst du denn nie

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