Die Monster von Templeton
Templeton, sagt der Zug und wird langsamer. Der See, das Blau, ist eine Umarmung.
Sarah Franklin Temple Upton
Foto von ihrer Abschlussfeier an der Emma Willard School, aufgenommen im Jahre 1927.
Sy und Sarah in einem Kanu auf dem Flimmerspiegelsee, zusammen mit Hannah, die ein Waisenkind auf dem Schoß hält. Circa 1932.
… Vater holt mich ab in seinem alten, verbeulten Auto … «ein reicher Mann, mein Liebes, sollte in solchen Zeiten des Elends niemals seinen Reichtum zeigen» … zeigt auf die Barackenstadt neben der Eisenbahn … «Überall gibt es arme Leute, Sarah, sogar hier.» … Vater ist so alt! So verhärmt! Dreiundsiebzig und schon ganz tatterig. Mutter ist verbissen geworden, immer mit dem Waisenhaus beschäftigt, versorgt die Leute in der Barackenstadt mit Essen, ist eher hager mit ihren vierzig Jahren, sieht aber noch ganz gut aus … «Hallo, mein Liebes, du bist hübsch wie immer, aber ich befürchte, du wirst feststellen, dass wir uns ziemlich einschränken müssen. Dein Vater ist zu großzügig, weißt du, und wir können uns mittlerweile nur noch einen Gärtner und ein Hausmädchen leisten. Die kleine Sally, aus dem Waisenhaus.» … Ich mag sie nicht, diese kleine Sally, ein verstocktes Ding mit knubbeligem Gesicht und wildem Haar … Vater, der sich in seinem Arbeitszimmer einschließt. Über dem Kaminsims hängt Marmaduke Temple, und auf dem Sims liegt der Baseball des alten Cartwright. So ein abgewetztes Ding aus Schnur, sonderbar, wieso Vater so große Stücke darauf hält. Jeder weiß, dass Baseball ein alter Sport ist … Alles Stuss, diese Mills Commission, gekauft von der Spalding Corporation, von Baseball-Herstellern, um einen amerikanischen Mythos zu schaffen … Baseball wurde weder in Templeton noch sonst wo erfunden, er hat sich einfach entwickelt, so wie Pflanzen sich entwickeln, aus anderen Dingen …
Vater sieht müde aus, reibt sich die Augen … «Sarah, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Wir sind nicht mehr so reich, wie wir es mal waren. Der Börsenkrach war nicht gut für uns. Außerdem habe ich gesehen, wie Templeton anfing, langsam den Bach runterzugehen, dabei hab ich doch so viel Geld in die Stadt gesteckt … Das Krankenhaus hab ich für meine gute FreundinImogene Finch gebaut, die Sporthalle auf der Main Street, ich hab elektrische Straßenlaternen aufstellen lassen, das Bürgerkriegsdenkmal gleich bei der Knox-Mädchenschule, die Tennisplätze … Und was ich mir jetzt vorgenommen habe, Kingfisher Tower … das nennen sie ‹Temples Torheit› … eine große Steinfestung am See mit einem roten Ziegeldach … die Männer, fürchte ich, nutzen mich aus und klauen wie die Raben. Ich hab rote Ziegeldächer auf einer ganzen Reihe Schuppen in der Stadt gesehen … Ach, Sarah, Sarah, was kann ich bloß tun? Ich fürchte, mein Mädchen, Templeton liegt im Sterben …»
Im Sterben! Dann sagte er mir noch, was ich nicht wissen konnte: dass die Prohibition den großen Hopfenfeldern der Falconers überall im County den Garaus macht – was übrig sei, habe in den frühen Zwanzigern Mehltau bekommen und sei dann langsam, aber sicher verkümmert –, die Klavierfabrik ist abgebrannt, die Phinney-Druckerei nach Rochester gezogen, die Handelsfabrik in Hartwick aufgegeben, ebenso die Handschuhfabrik in Fly Creek. Heute seien dort Milchfarmen, und das war’s dann für Templeton. Die Leute seien arm und würden immer ärmer, sagte er …
… mein Spaziergang heute … Von den Häusern blättert der Putz ab, Rollläden sind aus den Angeln gerissen … die Gärten von Unkraut überwuchert, Kürbis wächst in früheren Blumenrabatten … die Straßen sind ungepflegt, gewaltige Schlaglöcher, und es gibt wieder Pferde … Pferde! In unserer heutigen Zeit! Überall Rossäpfel! … Ein kleiner Straßenjunge, barfuß, in Lumpen, hält grinsend eine armselige kleine Forelle in der Hand, die immer noch zappelt, er ist glücklich, weil er heute Abend was zu essen hat … Häuser stehen leer … in der Main Street lauter leere Ladenfronten, wie tote Augen … ja, mein Vater hat recht, es wird gestorbenhier … selbst die schrille Stimme des Mädchens in meinem Kopf ist verstummt, seit ich hier bin … als hätte sogar
sie
Angst …
… was kann ich tun? Es ist fünf Tage her, seit mein Vater es mir gesagt hat, und ich habe die Gewissheit
in mir,
dass ich etwas tun muss. Was kann ich tun? Mein Gehirn ist nur für literarische Analysen geeignet, nicht für solch weltliche und
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