Die Monster von Templeton
bringen, wenn sie ihn heiratete.»
«Ach herrje», sagte Vi. «Dann stimmen die Gerüchte also.»
«Jawohl», sagte ich.
Meine Mutter schnalzte mit der Zunge und legte den Löffel ab. «Ich finde das schrecklich», sagte sie, «aber andererseits, wenn man es recht bedenkt, ist das doch bei herkömmlich geschlossenen Ehen meistens so. Frauen werden von einem Mann an den anderen verscherbelt wie Vieh. Wirklich ekelhaft.»
Ich schaute mir die Frau an, die da vor mir saß, und plötzlich wurde mir ganz warm ums Herz; die alte Vi schlummerte also immer noch in diesem neuerdings so frommen Wesen. Als ich noch klein war, trug sie zur Schulsprechstunde flammende T-Shirts mit Aufschriften wie: EINE FRAU OHNE MANN IST WIE EIN FISCH OHNE FAHRRAD oder: ALS GOTT DEN MANN ERSCHUF, ÜBTE SIE NUR. Einmal, während einer Filmvorführung in der großen Steinbibliothek – als ich ein Kind war, ließen wir keine kostenlose kulturelle Veranstaltung aus –, als die Kamera in einem langsamen Schwenk über das verschlafene San Francisco fuhr, das in Nebel gehüllt war, hatte ich gesehen, wie sich Vis Augen mit Tränen füllten und schier überliefen. Ich spürte, wie die Sehnsucht sie in Wellen überkam, und in jenem Moment begriff ich mit meinen kaum sieben Jahren, um wie viel glücklicher sie in einer größeren Stadt gewesen wäre, einer weltoffeneren Stadt, von Leuten umgeben, die so waren wie sie. Ich saß dort im Dunkeln, hielt den Atem an und betete zu dem wie auch immer gearteten weltlichen Gott, an den ich damals glaubte, dass die Tränen, die meiner Mutter da in die Augen stiegen, nicht zu richtigen Tränen würden, dass sie blieben, wo sie waren, denn wenn sie wirklich geweint hätte, dann hätte ich auch gewusst, dass sie, um mich in Templeton aufwachsen zu lassen, mehr aufgab, als sie eigentlich ertragen konnte. In schrecklicher Anspannung beobachtete ich sie, doch die Tränen quollen nicht über. In letzter Minute schaute sie mich in der Dunkelheit an und lächelte, und als sie wieder auf die Leinwand blickte, waren ihre Augen trocken. Heute, an diesem Morgen, sah ich ihr Kreuz hin und her baumeln, dachte an den Hippie aus meiner Jugend zurück und fragte: «Vi, wie bringst du eigentlich deinen alten Feminismus mit deiner neuen Gläubigkeit unter einen Hut?»
«‹Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit.›» Sie lachte, als sie mein Gesicht sah, und sagte: «Siehst du, ich lese auch, Sunshine.» Ich lächelte sie an. Als ich klein war, hatte sie für jede Situation eine passende Gedichtzeile gehabt. Wenn wir in Fairy Springs den Jungs zuschauten,die von der Dockmauer ins Wasser sprangen, blinzelte sie und sagte: «… ‹Wie die Knaben/mit verwegenem und mit niederwärts-Tümmlern und glockenhelle Leiber aufwirbelnd,/Erdewelt, Luftwelt, Wasserwelt sind ganz ineinander geschleudert, alles eins um das andere›. Hopkins.» Oder wenn wir an einem dunklen Winterabend von einem Schultheaterstück nach Hause gingen, sah meine Mutter das Cartwright Field im bleichen Licht glitzern und murmelte: «‹Mit Sternen besetzt in Gürtel und Krone/weist das Stadion den Weg zu Orions Licht›.» Dann nahm sie meine Hand, drückte sie und sagte: «Marianne Moore.»
Jetzt, während sie aufstand, um ihre Müslischüssel auszuwaschen, schien es meine Mutter immer noch mit Genugtuung zu erfüllen, dass sie Whitman zitiert hatte.
«Vi?», fragte ich. «Sarahs Tagebuch bricht ganz plötzlich ab. Direkt nach ihrer Verlobung mit Sy. Hast du eine Ahnung, was mit ihr passiert ist? Du sagtest, du hättest mal deine Urgroßmutter gefragt, und die hätte gesagt, Sarah sei gaga gewesen, aber was genau hat sie gesagt?»
«Nun», meinte meine Mutter. «Soweit ich weiß, heiratet sie tatsächlich, nachdem sie sich verlobt hat. Sie kriegt meinen Vater, und er kommt einen Monat zu früh zur Welt. Und als er dann zwei Monate alt ist, macht sie es Virginia Woolf nach und geht mit Steinen in den Taschen in den See. Natürlich ertrinkt sie. Als ich noch ein kleines dummes Ding war, etwa neun, glaube ich, habe ich mal meine Urgroßmutter, Sarahs Mutter, nach ihr gefragt. Hannah Clarke Temple. Ich hatte dieses Foto von Sarah oben gesehen, das von ihrer Abschlussfeier, und fand, dass sie toll aussah. Meine Urgroßmutter war damals so eine steinalte Fregatte mit massenhaft Falten, die riesige Perlen, groß wie Hühnereier, um den Hals trug, jeden finster anstarrte und versuchte, mit ihrem Stock nach Hunden, Vögeln und Kindern zu schlagen. Eine Minute lang
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