Die Monster von Templeton
dachte ich, sie würde mich windelweich prügeln, aber stattdessen begann sie zu reden, ganz viel und schnell, aber leise, fast flüsternd, und erzählte, sie hätte ihre Tochter niemals, nicht einmal als kleines Mädchen, so glücklich gesehen wie in der Zeit, als sie mit Syverlobt war. Sie sei wie ein Lichtstrahl gewesen, ihre traurige Tochter. Doch kaum war mein Vater geboren, war es so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Ihre Stimmung wurde immer düsterer, bis sie schließlich unter dieser dicken, samtigen Wolke der Traurigkeit wie begraben wirkte. Und meine Urgroßmutter wusste, was kommen würde, und dass sie nichts dagegen tun konnte.»
«Und warum?», wollte ich wissen. «Woher wusste sie es?»
«Das Hausmädchen hatte in Sarahs Zimmer eine Liste mit all den Leuten gefunden, die im See ertrunken waren, deshalb», sagte Vi. «Sie fanden die Liste, nachdem Sarah einen Sommer bei ihren Halbbrüdern in Manhattan verbracht hatte und wieder nach Hause zurückkehrte. Sie hatte Nachforschungen angestellt. Meine Urgroßmutter war entsetzt. Hat die Liste gleich verbrannt. Traurige Geschichte», sagte Vi. «Lange Zeit habe ich gedacht, man könnte ein gutes Gedicht draus machen.»
Meine Mutter stand auf und spülte ihre Schale aus. Mir kam sie plötzlich so lebendig vor, sprühend. «Ich würde gern noch ein bisschen mehr plaudern, wirklich, aber ich muss los, es den Sterbenden ein bisschen leichter machen», sagte sie. «Such heute lang und intensiv, und entdecke alles, was du kannst. Ich bin hier, wenn du heute Abend reden willst.» Sie ging in Richtung Tür, drehte sich dann noch einmal um, als wäre ihr etwas eingefallen. Ihr fleischiges Gesicht war ganz zusammengekniffen vor Freude. «Und falls du nicht vorhast, für den Rest des Sommers Miete hier zu zahlen, mein Zuckerschnäuzchen, dann solltest du dich langsam um deine Aufgaben kümmern. Hier im Haus muss dringend abgestaubt werden. Vielleicht sogar staubgesaugt. Dürfte höchstens ein oder zwei Stunden dauern. Viel Spaß.» Und dann war sie weg, kichernd.
Mitten beim Abstauben an jenem Nachmittag, die Augenwinkel immer noch verklebt vom Schlaf, wurde mir bewusst, dass meine Mutter den Dachboden geplündert hatte. Als sie damals nach Templeton zurückgekehrtwar – eine schwangere Vollwaise, die damit konfrontiert war, Herrin eines riesigen Hauses zu sein – hatte die Neigung ihrer Mutter, alles aufzuheben, sie genervt, und so packte sie all den Nippes und andere unnötige Dinge einfach weg. Das Averell Cottage meiner Kindheit war karg, fast spartanisch eingerichtet gewesen, alle Regale des Eckschrankes und alle Möbeloberflächen waren leer und kahl, nichts stand auf den Simsen. Auch unnötige Möbelstücke und die meisten Bilder hatte sie entfernt. Hätte sie vor der Wahl gestanden, so wäre meine Mutter wohl in einer lichterfüllten Behausung mit viel Glas, hellen skandinavischen Möbeln und Schieferböden am glücklichsten gewesen. Einem Haus, im Grunde ganz ähnlich dem von Primus Dwyer. Nun jedoch, in den etwas mehr als zwei Jahren, die ich von Templeton weggewesen war, war dies und das wieder aufgetaucht. Ein kleiner Bronzeabguss der Statue des Mohikaners mit seinem Hund aus dem Lakefront Park stand auf dem Kaminsims des Salons; altes Porzellan und Artikel aus Buntglas schmückten den Eckschrank im Esszimmer; es hingen viel mehr Ölgemälde an den Wänden; und über all dem wachte ein filigranes, kleines Pferd auf Rädern, das auf dem großen Esstisch stand, ein frech dreinschauendes, sehr altes Spielzeug. Ich hob es vom Tisch und hielt es in den Händen. Es war aus echtem Rossfell über einem geschnitzten Holzrahmen, mit glänzenden, leicht verstaubten Glasaugen und einem richtigen kleinen Zaumzeug nebst Sattel.
Ich schaute dem Pferdchen ins Auge. «Was», fragte ich, «könnte denn Vi bewogen haben, dich auszugraben, mein Kleiner?» Und dann schaute ich mich weiter im Zimmer um, bemerkte die neuen Farne in ihren alten Steinguttöpfen mit chinesischem Weidenmuster, das ungenutzte Sideboard, die Bilder. Zum ersten Mal machte der Raum einen gemütlichen und kompletten Eindruck, als hätte Vi sich widerstrebend mit der Notwendigkeit abgefunden, in Templeton zu leben, und sich endlich eingestanden, dass sie nirgendwo mehr hingehen würde.
«Aha», sagte ich laut. «Ich sehe, meine Mutter hat beschlossen, in Templeton zu bleiben.»
Doch erst, als ich an diesem Abend nach Hause kam, erschöpft nach einem erfolglosen Besuch in der Bibliothek
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