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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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und durch den gut gelaunten Eifer des kleinen Peter Lieder, begann ich die Veränderung wirklich zu begreifen. Den ganzen Tag über hatte ich mich mit der Geschichte von Sarahs Halbbrüdern als den möglichen Erzeugern meines Vaters beschäftigt, war jedoch auf keinen Hinweis darauf gestoßen, dass sie nach ihrem Wechsel auf Privatschulen jemals nach Templeton zurückgekehrt waren. In den Unterlagen fanden sich Internatsrechnungen, die Sarahs Vater Henry bezahlt hatte und in denen zusätzliche Kosten für die Unterkunft während der Feiertage und Ferien aufgeführt waren; da gab es Bittbriefe von Henry in dessen typisch ruhigem, freundlichem Ton, in denen er seine Söhne um Verzeihung dafür bat, dass er Hannah schon so bald nach dem Tod ihrer Mutter Monique an einem Aneurysma geheiratet hatte, und sie bedrängte, doch recht bald einmal zu Besuch zu kommen und ihr süßes, neues Schwesterchen kennenzulernen.
    «Meine lieben Jungs», hatte Henry sie in einem Brief ermahnt. «Es gibt nichts Wichtigeres als Familie. Bitte lasst eure Wut auf mich nicht an eurer neuen Stiefmutter oder eurer Schwester aus.»
    Die Jungen, die beim Tod ihrer Mutter elf und dreizehn Jahre alt gewesen waren, hatten nie wieder ein normales Verhältnis zum Vater und lernten ihre Schwester bei deren Highschoolabschluss an der Willard, als sie beide bereits verheiratete Anwälte in Manhattan waren, nur widerwillig kennen. Da sie niemals in Templeton gelebt und den Ort auch sonst nie besucht hatten, waren sie als potenzielle Vorfahren meines Vaters ohne Weiteres auszuschließen. Dennoch tat es mir um Henry, Sarahs Vater, leid, der gebrochenen Herzens gestorben war, nachdem all seine Kinder entweder bereits tot waren oder sich von ihm losgesagt hatten.
    Auf meinem langen Spaziergang nach Hause begann ich über meinenanderen Kummer nachzugrübeln. Wenn ich mich im Haus aufhielt, begann mein Herz immer wieder zu rasen, weil ich mir sicher war, dass jeden Moment das Telefon klingeln und Primus Dwyer mich anrufen würde. Doch ich täuschte mich – das Telefon klingelte nie, und der Schmerz darüber, dass er immer noch nicht angerufen hatte, wurde von Mal zu Mal tiefer. Außerdem fühlte sich das Klümpchen in mir immer schwerer und allgegenwärtiger an, obwohl mir durchaus bewusst war, dass es mit seinen zwei Monaten kaum größer war als die Radiergummispitze eines Bleistifts und sich immer noch teilte und teilte, in lauter kaum wahrnehmbare Partikel. Als ich an diesem Abend Averell Cottage betrat, war ich so im Wust meiner eigenen Gedanken versunken, dass ich nicht auf die Reihe artig ausgezogener Schuhe achtete, die an der Tür stand, und voll in die Falle ging.
    Als Erstes spürte ich, dass sich die Luft verändert hatte; sie fühlte sich irgendwie kühl an, wie feuchte Wolle. Und dann hörte ich eine Stimme, tief und doch salbungsvoll, eine Art Singsang – wie ein geöltes Fagott.
    «… Lasset uns beten», sagte sie gerade, «für sie, die die Tochter unserer geliebten Schwester in Christo, Vivienne Upton, ist, lasset uns beten für sie in dieser Zeit der Unbill in ihrem Leben; nicht, dass die Mühsal dahinschwinde und sie ein Leben ohne sie leben dürfe, denn alle Menschen müssen Mühsal erleben; doch dass sie aus ihren Bürden lernen möge und dass sie die sanfte Gnade an Gottes Brust erfahre, durch die Gabe des Lichtes Christi …»
    Zu diesem Zeitpunkt waren meine verblüfften Augen endlich in der Lage zu erkennen, was dort im Wohnzimmer vor sich ging. Ein Kreis von Menschen in dröger Kleidung hielt sich mit gebeugtem Kopf an den Händen, allesamt golden überströmt von den letzten Sonnenstrahlen. Davor saß, wie ein unförmig aufgeplustertes weißes Kissen, ein Priester; seine mit Pomade versteifte letzte Haarsträhne, die er sich quer über den Schädel gezogen hatte, hob und senkte sich beim Beten wie eine winkende Hand. Meine Mutter saß am Kopfende des Tischesund schaute mit undurchdringlicher Miene zu mir empor. Und jeder, der da in unserem Wohnzimmer saß, trug das gleiche schwere Eisenkreuz.
    «Was», sagte ich mitten in den dröhnenden Bass des Priesters hinein, «was zum Teufel glaubt ihr eigentlich, was ihr hier macht?»
    Eine alte Dame blickte zu mir hoch, und obwohl sie die netten runden Bäckchen und das marshmallowweiße Haar einer Oma hatte, war der Zorn in ihren Augen glühend.
    Doch niemand sonst öffnete die Augen, und der Priester hörte auch nicht auf, sondern legte sogar so deutlich einen Zahn zu, dass einige Worte

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