Die Moralisten
wußte. Sie beugte sich über sie. »Ihr Name?« fragte sie, und aus ihrer Stimme sprach die Angst, daß das Kind vielleicht ohne Namen durchs Leben gehen müsse.
Das Mädchen öffnete die Augen. Ihr Blick schien aus weiter Ferne zurückzukehren. »Frances Cain«, hauchte sie, und ihre Stimme drang kaum an das Ohr von Mrs. Cozzolina. Ihre Augen schlossen sich, öffneten sich plötzlich wieder und waren leer. Ihr Kinn sank schlaff auf das Kissen.
Mrs. Cozzolina nahm das Kind an sich und stand auf. Sie sah, wie der Doktor das Mädchen mit dem Leintuch zudeckte. Dann nahm er ein Papier aus seiner Tasche. Auf italienisch sagte er: »Nun wollen wir den Geburtsschein ausfüllen, nicht wahr?«
Mrs. Cozzolina nickte. Zuerst kamen die Lebenden.
»Auf welchen Namen?«
»Francis Kane«, sagte Mrs. Cozzolina.
ERSTER TEIL
Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich im Waisenhaus gelebt. Es war kein so schlechtes Leben, wie die meisten Menschen glauben. Ich bekam gut zu essen, war anständig angezogen und hatte einen ordentlichen Unterricht. Und wenn ich nicht meinen Anteil an Nestwärme mitbekam, so regte mich das nicht weiter auf. Ich besaß dafür eine gewisse Portion Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit, die andere gewöhnlich erst bekommen, wenn sie bedeutend älter sind.
Ich hatte mir von früh auf die eine oder andere Gelegenheitsarbeit verschafft und oft anderen Kindern in der Schule, die angeblich besser dran waren als ich, kleine Geldbeträge geliehen. Ich wußte, an welchem Tag jeder sein Taschengeld bekam, und wehe, wenn sie mir das Geld nicht zurückzahlten! Vor etwa zwei Wochen hatte ich Peter Sanpero zwanzig Cents geliehen. In der nächsten Woche war er entwischt, ehe ich ihn schnappen konnte, und als ich ihn später traf, war er pleite, aber in dieser Woche wollte ich mir meinen Zaster sichern.
Am Nachmittag sprach ich ihn nach der Schule an, als er mit einigen seiner Kumpane über den Hof schlenderte.
»He, Pete!« rief ich. »Wie steht's mit meinen zwanzig Cents?«
Peter spielte sich gern auf und war mit allen Hunden gehetzt. Er war etwas kleiner als ich, aber breiter und schwerer. »Was ist damit?« fragte er.
»Ich will sie zurückhaben«, sagte ich. »Ich habe dir die Moneten geliehen, aber nicht geschenkt.«
»Zum Teufel mir dir und deinen zwanzig Cents!« näselte er. Dann wandte er sich an seine Gefährten. »Das ist das Üble mit diesen Bastarden aus dem Waisenhaus: Wir bezahlen ihren
Unterricht und stiften für ihren Unterhalt, und sie tun so, als ob ihnen das alles gehörte. Du wirst das Geld bekommen, wenn es mir Spaß macht.«
Das reichte mir. Es machte mir nichts aus, Bastard genannt zu werden. Das war mir oft genug passiert und berührte mich nicht weiter. Aber niemand durfte mich betrügen und ungestraft davonkommen.
Ich stürzte mich auf meinen Widersacher. Der trat zur Seite und gab mir einen Kinnhaken. Ich sackte zu Boden. »Du lausiger Itaker!« schrie ich. Er warf sich auf mich und trommelte mir mit den Fäusten ins Gesicht. Da zog ich mein Knie an und trat ihn zwischen die Beine. Er wurde blaß und rollte von mir ab. Er stöhnte, aber aus seiner Kehle kam nur ein dünnes Quieken.
Ich stand auf und beugte mich über ihn. Aus meiner Nase floß Blut auf seinen Anzug. Ich griff in seine Tasche und holte mir eine Handvoll Kleingeld heraus. Sorgfältig zählte ich zwanzig Cents ab. Ich zeigte sie seinen Freunden. »Hier«, sagte ich, »meine zwanzig Cents - das ist alles, was ich wollte. Und nun versucht bloß nicht, irgendwelchen Ärger zu machen. Sonst passiert euch dasselbe.«
Ich ging zu Jimmy Keoughs Billardhalle. Jimmy Keough, für den ich nach der Schule arbeitete, saß mit einem grünen Schirm über den Augen hinter dem Zigarrenstand. »Was ist denn mit dir passiert, mein Junge?«
»Nichts Besonderes, Mr. Keough«, sagte ich. »Irgend so ein Bursche glaubte, er könnte mich beschummeln. Aber da hatte er sich geirrt.«
»Gut gemacht, Frankie«, sagte Mr. Keough. »Laß dich nie von jemandem behumpsen. Sobald du dir so was gefallen läßt, bist du erledigt. Geh jetzt nach hinten, wasch ab und feg das Lokal aus.« Als ich weiterging, hörte ich, wie er zu einem der Männer sagte: »Der Junge bringt es eines Tages noch zu was. Er ist erst dreizehn, aber er kann meine Wettgewinne besser austüfteln als ich selber.«
Die Nachmittage bei Keough waren für mich der Höhepunkt des Tages. Als erstes fegte ich den Raum aus, in dem acht Billardtische standen. Dann bürstete ich
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