Die Moralisten
ganz vorsichtig die Tische ab, um den Filzbelag nicht zu verderben, und dann staubte ich den Holzrahmen der Tische ab. Als nächstes waren Sodawasser und Bier kaltzustellen. Da Prohibition herrschte, wurde das Bier unten im Keller aufbewahrt. Jedesmal, wenn jemand ein Bier oder einen Whisky wollte, wandte er sich an Jimmy Keough, und wenn Jimmy Keough zu beschäftigt war, schickte er mich nach unten, um das Verlangte zu holen.
Gegen vier Uhr begann das Telefon zu läuten, und die Rennergebnisse liefen ein. Ich schrieb sie auf eine Tafel, die hinten im Raum in einem versteckten Winkel hing. Außerdem legte ich die Billardkugeln auf ein Gestell und machte Besorgungen für die Spieler. Auch meinen Schuhputzkasten hatte ich bei Keough, und wenn sich jemand die Schuhe putzen lassen wollte, war ich sofort zur Stelle.
Für meine Arbeit bekam ich drei Dollar die Woche und was sonst noch für mich abfiel. Alles in allem kam ich meist mit sechs bis acht Dollar die Woche nach Hause. Um halb sieben gab mir Mr. Keough dann alle seine Zettel, auf denen die Tageswetten notiert waren, und ich mußte sie für ihn ausrechnen. Um sieben Uhr war meine Arbeit beendet, und ich ging zum Abendessen ins Waisenhaus zurück. Nach dem Essen ging ich noch ein paar Stunden nach draußen, denn abends durfte ich den Billardsaal nicht betreten. Mr. Keough hatte es mir streng verboten. Warum, wußte ich nicht.
An einem solchen Tag lernte ich Silk Fennelli kennen.
Silk Fennelli war der große Mann in unserer Gegend. Er hatte alles unter sich: Alkoholschmuggel, Spielhöllen und Lotterien. Er war der angesehenste und gefürchtetste Mann in diesem Bezirk. Ich sah ihn hin und wieder, wenn er geschäftlich bei Keough vorsprach. Er war stets von einer Leibwache umgeben. Fennelli war zäh, hart und gerissen. Er fürchtete sich vor nichts und niemandem. Er war mein Held.
Wenn ich bei Keough früh fertig war, nahm ich manchmal meinen Schuhputzkasten und zog eine Weile durch die Gegend, um etwas Extrageld zu verdienen. An diesem Nachmittag ging ich in die Flüsterkneipe an der Ecke vom Broadway und der 65. Straße.
Ich ging von einem Gast zum anderen: »Schuhputzen gefällig, Mister?«
Der fette Barmixer, dessen Glatze mit Schweißperlen bedeckt war, raunzte mich an. »Los! Mach, daß du rauskommst! Zum Teufel noch mal, wie oft muß ich euch Lümmels noch sagen, daß ihr die Gäste nicht belästigen sollt? Raus mit dir, ehe ich dir in den Hintern trete!«
Auf dem Weg zur Tür stellte mir irgend so ein Bursche an der Theke ein Bein. Ich stolperte und stürzte, wobei mir der Schuhputzkasten von der Schulter fiel. Die Flaschen mit flüssiger Schuhcreme zerbrachen, und ich lag ganz verwirrt da, während die Creme nach allen Richtungen über die sauberen Fliesen floß.
Plötzlich wurde ich von einer fetten Pranke hochgerissen. Es war der Barmixer. Er platzte beinah vor Wut. »Los! Nix wie raus, bevor ich...« Er war so in Rage, daß er stotterte, als er mich
hinauszerrte. Ich war schon fast an der Tür, als ich wieder zu mir kam. Ich riß mich von seiner Pranke los. »Geben Sie mir meinen Schuhputzkasten«, schrie ich. »Ich will meinen Schuhputzkasten.«
»Marsch, raus! Ich werd's dir schon beibringen, daß du hier nie wieder erscheinst. Los, hau ab!«
»Ich geh nicht ohne meinen Schuhputzkasten«, rief ich. Dann schoß ich um ihn herum, rannte in die Kneipe zurück und begann in aller Hast Bürsten, Lappen und Flaschen wieder in den Kasten zu stopfen.
Der Barmixer schnappte mich gerade, als ich aufstehen wollte. Er haute mir eine runter, daß mir die Ohren dröhnten. »Ich werde euch kleinen Bastarden schon die Flötentöne beibringen«, fauchte er. Er schlug wieder zu und packte mich beim Genick, daß ich mich nicht rühren konnte.
»Laß ihn los, Tony, ich möchte mir die Schuhe putzen lassen«, tönte eine ruhige, angenehme Stimme aus einer der Nischen an der Wand.
Der Barmixer und ich drehten uns beide um. Ich weiß nicht, wer von uns überraschter war. Ich sah einen schlanken, gutaussehenden Mann von etwa fünfunddreißig oder vierzig Jahren in einer der Nischen. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, einen eleganten schwarzen Hut und glänzende schwarze Schuhe. Seine grauen Augen waren halb geschlossen, und ein dünner Schnurrbart zierte seine Oberlippe. Weiße, glänzende Zähne leuchteten aus einem dunklen, scharfgeschnittenen Gesicht. Es war Silk Fennelli.
Der Barmixer räusperte sich. »Wie sie wünschen, Mr. Fennelli.« Er ließ mich los und
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