Die Moralisten
hatte.
Viertes Kapitel
Der Hof des Schlosses Cardinali war leer gewesen, als Cesare seinen Wagen vor dem Gebäude bremste. Als er die Zündung abstellte, ging die Vordertür auf, und ein alter Mann trat heraus. Sobald er Cesare erblickte, strahlte er vor Freude und eilte die Freitreppe herab. »Don Cesare, Don Cesare!« rief er mit zittriger Greisenstimme.
Cesare drehte sich lächelnd zu ihm um. »Gio!«
Der Alte kam näher. »Sie hätten uns mitteilen sollen, daß Sie kommen, Don Cesare«, sagte er. »Wir hätten dann im Hause alles vorbereitet.«
»Ich bleibe nur eine Nacht, Gio. Morgen muß ich schon auf dem Heimweg sein.«
Die Miene des Alten verdüsterte sich. »Heimweg, Don Cesare? Ihr Heim ist doch hier.«
Cesare stieg die Stufen zum Eingang hinauf. »Ja. Ich vergesse das immer wieder«, sagte er sanft. »Aber zu Hause bin ich in Amerika.«
Gio zog den Koffer aus dem Wagen und hastete Cesare nach. »Wie war’s denn mit dem Autorennen, Don Cesare? Haben Sie gesiegt?«
Kopfschüttelnd erwiderte Cesare: »Nein, Gio, ich hatte Kabelschäden und andere Pannen und mußte ausscheiden. Eben deshalb hatte ich Zeit, hierherzukommen.«
Er ging durch die große, kalte Vorhalle und blieb vor dem Porträt seines Vaters stehen. Sekundenlang blickte er zu dem schmalen Patriziergesicht hoch. Seinen Vater hatte der Krieg vernichtet. Seelisch und körperlich.
»Das mit Ihrem Auto tut mir leid, Don Cesare«, hörte Cesare den Alten hinter sich sagen.
»Das Auto? Ach ja, richtig.« Cesare wandte sich von dem Bildnis ab und ging zur Bibliothek. Er hatte an das Rennen gar nicht gedacht, aber auch nicht an seinen Vater. Ihm war nur wieder einmal zum Bewußtsein gekommen, wie sehr sich doch alles verändert hatte.
Als er nach dem Kriege zurückgekehrt war, besaß er nichts mehr. Sein Onkel hatte sich sein ganzes Vermögen angeeignet. Die Bank, die Ländereien, alles außer dem Schloß und dem Titel. Der Onkel hatte seinem Bruder nie verziehen, daß er ihn, Cesare, zum legitimen Erben erklären ließ.
Niemals wurde darüber offen gesprochen, aber jeder wußte, wie engherzig der geizige kleine Mann war, dem die Wechselbank gehörte. Mit Bitternis erinnerte sich Cesare des Tages, an dem er seinen Onkel aufgesucht hatte, um mit ihm zu reden.
»Signor Raimondi!« hatte er gesagt, arrogant und von oben herab. »Wie man mich informierte, hatte mein Vater Gelder bei Ihnen hinterlegt.«
Raimondi hatte ihn über seinen schmutzigen schwarzen Schreibtisch hinweg hinterlistig angeblickt. »Dann wurdest du falsch informiert, bester Neffe«, hatte er mit seiner dünnen, schnarrenden Stimme gesagt. »In Wahrheit liegt die Sache umgekehrt. Der Graf, mein guter Bruder, schuldete mir leider, als er verschied, riesige Beträge. Hier in meinem Schreibtisch habe ich Hypothekenbriefe für das Schloß und die gesamten Ländereien.«
Und so war es gewesen: Nach außen hin alles korrekt und in Ordnung. Raimondi Cardinali verstand sich auf alle dazu nötigen Schliche. Noch drei Jahre nach dem Kriege mußte Cesare unter der Fuchtel dieses alten Mannes leben, und weil seine nackte Existenz von ihm abhing, haßte er ihn. Er hatte sich sogar die kleinen Beträge für die Bahnfahrten zu seinen geliebten Fechtturnieren im Büro seines Onkels abholen müssen. Bei einer dieser Gelegenheiten hatte er Emilio Matteo kennengelernt. Als er im Privatkontor seines Onkels in der Bank saß, entstand draußen Aufruhr. Er drehte sich um und warf einen Blick durch die verglaste Tür.
Ein geschmackvoll gekleideter grauhaariger Mann kam durch den Bankraum auf das Privatbüro zu.
»Wer ist das?« hatte Cesare gefragt.
»Emilio Matteo«, hatte Raimondi geantwortet. »Er gehört zu den Dons der Gesellschaft. Er ist soeben aus Amerika zurückgekommen.«
Cesare hatte gelächelt. Die »Gesellschaft« nannten sie es. Die Mafia. Erwachsene Männer spielten wie Knaben, sie vermischten ihr Blut zur Verschwörung und nannten sich Onkel, Neffen und Vettern.
»Lächle nicht«, hatte sein Onkel schroff gesagt. »In Amerika ist die Gesellschaft sehr wichtig. Matteo ist heute auf Sizilien der reichste Mann.«
Matteo trat in das Kontor. »Buon giorno, Signor Cardinali«, sagte er mit stark amerikanischem Akzent.
»Ihr Besuch ehrt mich, Signor Matteo.« Raimondi ververneigte sich. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
Als Matteo einen fragenden Blick auf Cesare warf, eilte Raimondi hinter dem Schreibtisch hervor. »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Neffen, Graf Cardinali,
Weitere Kostenlose Bücher