Die Moralisten
seinem Gesicht. »Ich hatte nicht die Absicht, dir so weh zu tun, Ross«, flüsterte sie.
Er blickte in ihre Augen. »Ich habe es verdient. Es war meine eigene Schuld.«
Nach einigen Sekunden entzog sie ihm ihre Hand. »Ich muß jetzt gehen. Der Alte wird sonst wild.«
»Welche Nummer habt ihr?« fragte er hastig. Er bemerkte den verwunderten Ausdruck ihres Gesichts. »Damit ich dich anrufen kann«, fügte er hinzu.
»Wir haben kein Telefon.«
»Wie soll ich denn dann mit dir in Verbindung kommen?« fragte er. Er hatte immer in dem Glauben gelebt, alle Menschen hätten ein Telefon.
»Ich bin meist gegen drei Uhr in Rannis’ Schokoladengeschäft. Ein Stück die Straße hinauf, schräg gegenüber vom Billardsaal.«
»Ich rufe dich morgen dort an«, sagte er.
»Also gut.« Sie zögerte einen Augenblick. »Gute Nacht, Ross.« Er lächelte. »Gute Nacht, Marja.«
Er sah ihr nach, als sie die Straße entlangging. Er mochte die Art, wie sie ging: den Kopf hoch erhoben, mit selbstbewußten Schlitten und mit geschmeidigen Bewegungen ihres Körpers, als gehörte ihr die ganze Welt. Sie besaß einen natürlichen Stolz. Er wartete, bis sie die Stufen zum Haus hinaufgegangen und im Eingang verschwunden war. Dann fuhr er die Straße entlang. Im Billardsaal war noch Licht. Er folgte einem jähen Einfall, hielt an und stieg aus.
Er hatte recht gehabt. Jimmy war da und beugte sich gerade, einen
Billardstock in der Hand, inmitten einer Gruppe junger Leute über einen Spieltisch.
Als er sich näherte, hörte er Jimmys Stimme. Sie war leise, aber die Lust am Sensationellen schwang in ihr mit: »... wie eine tote Maus«, sagte er. »Ross lag auf dem Bett, als hätte man ihm das Fell abgezogen. Völlig fertig. Mein Mädchen meinte, wir hauen lieber ab, bevor die Polente kommt. Die Blonde sagte, jemand müßte bei ihm bleiben. Da haben wir uns verdrückt und ihn mit seiner Blonden liegen lassen . «
Wie von einem sechsten Sinn gewarnt, blickte er auf. Er zwang sich zu einem Lächeln.
»Ross!« rief er, und sein Tonfall veränderte sich. »Wie fühlst du dich, alter Junge? Mann, war das ein Nachmittag!«
Ross’ Gesicht war kalt, und seine Augen blickten eisig. Seine Lippen bewegten sich kaum, aber die Worte waren ätzend. »Du feiger Dreckskerl! Warum bist du davongelaufen?«
»Francie bekam es mit der Angst zu tun, Ross.« Seine Worte überstürzten sich im Eifer, alles erklären zu wollen. »Jemand mußte sie doch nach Hause bringen. Außerdem blieb ja Marja bei dir. Sie hat es jedenfalls gesagt.«
Ross kam um den Spieltisch herum auf ihn zu. Die anderen wichen zurück, als er sich Jimmy näherte. »Und wenn ich wirklich krank gewesen wäre, Jimmy?« fragte er, und seine Stimme klang plötzlich trügerisch sanft. »Wenn ich nun wirklich Hilfe gebraucht hätte? Und nur ein Mädchen da, um mir zu helfen?«
Jimmy lächelte noch immer, aber die Angst in seinen Augen nahm zu. »Das Mädchen hätte dir bestimmt helfen können, meinst du nicht, Ross?« erwiderte er hastig. »Die weiß doch bestimmt, was zu tun ist.«
Ross’ Faust traf seinen Mund. Er taumelte rückwärts gegen einen Tisch. Einen Augenblick hielt er sich daran fest. Dann drehte er den Billardstock in seiner Hand um und stieß ihn auf Ross’ Gesicht zu. Ross wehrte den Stock mit einem Arm ab und trat dicht vor Jimmy. Seine Fäuste bewegten sich so schnell, daß man ihnen in dem gelblichen licht kaum folgen konnte. Der Billardstock fiel aus Jimmys Hand. Einen Augenblick später trat Ross zurück. Er verspürte einen heftig pochenden Schmerz in seinen Schläfen, während er Jimmy aus Nase und Mund blutend langsam zu Boden sinken sah. Schmerz war das einzige, um wieder quitt zu werden. Jimmy mußte erfahren, was Schmerz war.
Jimmy saß am Boden, seine Augen benommen und verwirrt. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut über sie. Langsam wälzte er sich auf die Seite und blieb liegen.
Ross bückte sich und hob den Billardstock auf. Seine Augen leuchteten eisig, als er nun über der am Boden liegenden Gestalt stand.
Unwillkürlich schrie Jimmy auf, ehe die anderen Ross zurückreißen konnten. Der Billardstock zerbrach in seinen Händen. »Hör auf, Ross!« rief einer der anderen. »Willst du ihn umbringen?«
Ross betrachtete das scharf gezackte Ende des zerbrochenen Stocks in seiner Hand. Um ihn her loderte alles. Wie in weiter Ferne hörte er eine Tür schlagen. »Guter Gedanke«, brüllte er, riß sich aus der Umklammerung los und stieß mit dem
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