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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zurück. »Komm doch herein, Onkel Peter.«
    Unbeholfen betrat er das Zimmer und hielt ihr die Schachtel hin. »Ich habe Konfekt mitgebracht.«
    Sie nahm es mit ernstem Gesicht entgegen. »Danke«, sagte sie und legte die Schachtel auf den Küchentisch. »Mama hat gesagt, ich soll dich ins Wohnzimmer führen.«
    Er nahm den Hut ab und blieb verlegen stehen. »Mach nur keine Umstände«, erklärte er steif. »Ich kann doch in der Küche bleiben.« Sie schüttelte gebieterisch den Kopf. »Mama hat gesagt, ich soll dich ins Wohnzimmer führen.«
    Ohne zurückzublicken, führte sie ihn den langen, schmalen Gang entlang in das vordere Zimmer. Sie war wie ein weißer Schatten, der vor ihm hertanzte. Er stolperte in der plötzlichen Dunkelheit.
    »Nimm meine Hand, Onkel Peter«, sagte sie ruhig. »Ich kenne den Gang. Du wirst im Dunkeln stolpern.«
    Ihre Hand fühlte sich warm an. Plötzlich blieb sie stehen, und er prallte gegen sie. »Entschuldige«, rief er und wurde sich seiner Ungeschicklichkeit bewußt.
    »Macht nichts«, antwortete sie und entzog ihm ihre Hand.
    »Ich werde Licht machen.«
    Er hörte sie im Dunkeln davongehen, dann ein Knacken, und das Licht erfüllte den Raum. Sie stand vor der Lampe, und das Licht fiel durch ihr weißes Kleid hindurch. Er starrte sie an. Sie schien darunter nichts anzuhaben.
    Sie bemerkte, wie er sie ansah, und ein leichtes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Gefällt dir mein Kleid für die Abschlußfeier in der Schule, Onkel Peter?« fragte sie hoheitsvoll. »Mama hat es gerade fertiggenäht, bevor du kamst.«
    Er nickte, seine Augen noch immer auf ihre schattenhaft sich abzeichnende Gestalt gerichtet. »Sehr hübsch.«
    Sie entfernte sich nicht aus dem Licht der Lampe. »In diesem Jahr machte ich mein Abschlußexamen in der Grundschule, weißt du das?«
    »Ich weiß«, antwortete er. »Dein Vater hat es mir erzählt. Er war sehr stolz.«
    Ihre Augen verschleierten sich. Er glaubte schon, sie würde in Tränen ausbrechen, aber es ging schnell vorüber. Sie ging von der Lampe weg. »Nächstes Jahr komme ich in die Oberschule«, erklärte sie.
    »Schon so bald?« fragte er mit gespielter Überraschung. »Ich sehe dich halt immer noch als kleines Kind.«
    Sie stand jetzt dicht vor ihm und blickte zu ihm auf. »Ich werde bald dreizehn«, erklärte sie. »Ich bin kein kleines Kind mehr.«
    Er stritt es nicht ab. Er hatte es gesehen.
    »Aber ich bin nicht zu alt, um dir für das schöne Konfekt einen Kuß zu geben, Onkel Peter«, sagte sie lächelnd.
    Er spürte, wie ihm vor Verlegenheit das Blut ins Gesicht stieg. Er trat unbeholfen von einem Fuß auf den anderen und sagte nichts.
    »Komm, beug dich herunter, Onkel Peter«, befahl sie gebieterisch. »Du bist mir zu groß.«
    Er beugte sich vor und hielt ihr seine Wange hin, aber ihr Verhalten überrumpelte ihn. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und küßte ihn auf die Lippen. Es war nicht der Kuß eines Kindes, sondern der einer Frau, die zum Küssen geboren war. Er fühlte, wie sich ihr junger Körper an ihn drängte.
    Schwerfällig streckte er die Hände aus, um sie abzuwehren, berührte aber dabei zufällig ihre Brüste. Er ließ seine Hände fallen, als hätte er in einen glühenden Ofen gelangt.
    Sie trat zurück und blickte zu ihm auf, ein Lächeln in ihren Augen. »Vielen Dank für das Konfekt, Onkel Peter.«
    »Gern geschehen«, antwortete er.
    »Setz dich doch«, forderte sie ihn auf und ging an ihm vorbei zum Gang. In der Tür blieb sie stehen und sah zu ihm zurück. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr, findest du nicht, Onkel Peter?«
    »Nein, das bist du nicht«, gab er zu.
    Sie lächelte ihn stolz an, wandte sich dann um und lief den Gang entlang. »Mama!« rief sie. »Onkel Peter hat uns eine Schachtel Konfekt gebracht!«
    Er sank auf einen Stuhl und dachte an das, was ihr Vater ein paar Tage vor dem Unglück zu ihm gesagt hatte. »Noch ein Jahr, Peter«, hatte er erklärt, »und die Jungen sind hinter ihr her wie Hunde hinter einer läufigen Hündin.«
    Er schüttelte den Kopf. Eine seltsame Erregung erfüllte ihn. Henry mußte blind gewesen sein. Bestimmt waren die Jungen jetzt schon hinter ihr her.
    Er vernahm Kattis Schritte auf dem Gang und erhob sich. So stand er da, mit gerötetem Gesicht, als sie das Zimmer betrat. Sie kam auf ihn zu, und sie schüttelten sich fast wie Männer die Hände. »Peter«, rief sie, »du bist viel zu gut zu uns. Du hättest das Konfekt nicht mitbringen dürfen. Es ist viel zu

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