Die Moralisten
hängte das Abendkleid in ihren Schrank. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel eilte sie zur Tür hinaus. Es war ein paar Minuten nach zwölf. Die Woche über war diese Arbeit gar nicht so übel - sie war nur sechs Stunden auf den Beinen. Am Freitag und Samstag aber war es ermüdend. An diesen Tagen arbeitete sie von fünf Uhr nachmittags bis zwei Uhr nachts.
Sie trat auf die von Lärm erfüllte Straße hinaus und sah ihn an einem Wagen lehnen. Er hatte auf sie gewartet. Jeden Abend, seit sie ihre Arbeit dort begonnen hatte, wartete er auf sie.
»Hallo, Mike.«
Er lachte sie an. »Hallo, Baby.«
Sie gingen nebeneinander her. »Du brauchst nicht jede Nacht auf mich zu warten, Mike«, sagte sie. »Ich komme auch so nach Hause.« »Ich möchte es aber«, antwortete er.
»Du mußt doch halbtot sein. Zwölf Stunden stehst du an diesem Zeitungsstand.«
Er lächelte. »Du darfst mir nicht die einzige Freude im Leben nehmen«, erwiderte er. »Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee?« Sie nickte. »Gern. Aber vergiß nicht, daß ich diesmal mit dem Zahlen an der Reihe bin.«
»Was glaubst du, warum ich dich aufgefordert habe?« rief er lachend.
Sie gingen in einen Drugstore und setzten sich auf zwei Hocker an der Theke. »Zwei Java«, bestellte Mike und sah sie an. »Teilst du mit mir eine Brezel?« Sie nickte.
Er rief dem Mann an der Theke die Bestellung zu und wandte sich ihr wieder zu. »Wie geht es deiner Mutter?«
»Heute besser, danke«, antwortete sie. »Der Arzt hat gesagt, wenn es so bleibt, darf sie morgen aufstehen.«
»Um so besser.«
Sie schwieg eine Weile, während sie an ihre Mutter dachte. Katti lag schon seit fast einer Woche im Bett. Zunächst hatte der Arzt geglaubt, es handle sich um einen Abgang, aber es hatte sich alles wieder gegeben. Allerdings konnte sie nicht an ihre Arbeit zurückkehren. Die Eimer und Bohnerbesen waren einfach zu schwer für sie. Marja mußte daran denken, wie sich ihre Mutter aufgeregt hatte, als sie von ihrer Stellung erzählte. Aber die zwanzig Dollar in der Woche waren ihre Rettung. Ohne dieses Geld hätten sie alle verhungern können. Peter war zu gar nichts zu gebrauchen.
Der Mann an der Theke stellte den Kaffee und eine Brezel vor sie hin. Rasch teilte sie sie und gab Mike das größere Stück. »Wie war es heute?« fragte Mike.
»Nichts Besonderes.« Sie lächelte. »Ich war ziemlich beschäftigt.«
Er lachte auf. »Du bist eine gute Tänzerin, was?«
Auch sie lachte. »Die beste.« Plötzlich jedoch wich die Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht. »Ross ist heute abend gekommen.«
Mike starrte in seine Kaffeetasse. »Und was wollte er von dir?«
»Er sagte, er fahre für eine Weile weg. Er wollte noch einmal mit mir ausgehen.«
Mike sah sie noch immer nicht an. »Was hast du ihm gesagt?« »Nichts zu machen, habe ich ihm erklärt. Da wurde er frech, und Mr. Martin ist hinzugekommen. Daraufhin ist er verschwunden.«
Mike schwieg einen Augenblick. »Sein Vater schickt ihn nach Europa.«
Der Atem stockte ihr. »Mann«, flüsterte sie, »es muß herrlich sein, soviel Geld zu haben.«
Mike sah wieder in seine Tasse. »Du magst ihn noch immer, nicht wahr?«
Sie sah ihn an. »Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete sie aufrichtig. »Er ist anders als alle Jungen, die ich kenne. Er redet anders, er benimmt sich anders.«
»Und er hat Geld«, meinte Mike verbittert.
»Das ist es nicht«, entgegnete sie rasch.
»Was ist es dann?«
Er sah ihr an, daß sie sich die Antwort sorgfältig überlegte.
»Seine ganze Art. Ständig benimmt er sich so, wie ich es manchmal möchte. Als ob er ganz oben sitzt, und alle anderen nach seiner Pfeife tanzen müssen. Es muß schön sein, ganz oben zu sitzen.«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Weißt du«, sagte sie und senkte ihre Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »Mr. Martin hat die ganze Zeit gewußt, daß er mit falschen Würfeln spielte.«
Mike war verblüfft. »Warum ist er dann nicht dazwischengefahren?« »Wegen Ross’ Vater«, erklärte sie. »Mr. Martin hat gesagt, sein Alter hätte viele Beziehungen.« Ihre Stimme verriet, daß sie das beeindruckte.
Er sah sie an. »Und das gefällt dir?«
Sie zündete sich eine Zigarette an und tat einen tiefen Zug. »Vielleicht«, antwortete sie. »Ich würde auch ganz gern mal etwas Luxus kennenlernen. Wer schließlich nicht? Immer noch besser, als so zu leben, wie ich es jetzt tue!«
15
Katti legte ihre Näharbeit hin und blickte auf die Uhr. Es war fast elf. Sie
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