Die Moralisten
erhob sich von ihrem Stuhl und trat ans Fenster. Die Augustnacht war schwül und feucht. Ermattet wischte sie mit einem Handtuch, das sie sich um den Hals gelegt hatte, den Schweiß von ihrem
Gesicht.
In ihrem Rücken spürte sie einen scharfen Schmerz, und es wurde ihr schwindlig. Sie begann zu schwanken, griff rasch nach der Tischkante und hielt sich daran fest, bis der Anfall vorbei war. Der Arzt hatte sie vor solchen Anfällen gewarnt. Er hatte ihr geraten, die meiste Zeit im Bett zu verbringen und nicht zu arbeiten. Bei ihr belastete die Schwangerschaft das Herz zu stark.
Der Schwindelanfall ging vorbei. Sie kehrte in die Küche zurück und legte ihre Näharbeit weg. Sie wollte sich eine Weile hinlegen und versuchen, sich auszuruhen.
Im Haus war es sehr still, und in der Dunkelheit ihres Zimmers lauschte sie auf jedes Geräusch. Häufig genug konnte sie erst einschlafen, wenn Marja zu Hause war, aber heute nacht war es noch schlimmer als sonst. Peter war nach dem Abendessen weggegangen und noch nicht zurückgekehrt. Sie wußte, was das zu bedeuten hatte. Wenn er zurückkam, würde er betrunken, streitsüchtig und gereizt sein. Sie mußte ihn von Marja fernhalten oder es käme erneut zu Auseinandersetzungen.
Nach ein paar Minuten begann sie sich besser zu fühlen, konnte aber noch immer nicht einschlafen. Im Zimmer war es zu heiß. Sie stand auf und ging in Marjas Zimmer hinüber. Im Kinderbett lag der kleine Junge in unruhigem Schlaf, sein Körper war von einem leichten Sommerausschlag gerötet. Während sie ihn ansah, erwachte er und begann zu weinen.
Sie nahm ihn auf und flüsterte beschwichtigend, aber er weinte weiter. Sie trug ihn in die Küche und gab ihm eine Flasche mit kühlem Wasser. Selig sog er daran, und sie legte ihn in das Bettchen zurück.
Von der Küchentür her vernahm sie ein Geräusch und drehte sich um. Es mußte Peter sein, denn für Marja war es noch zu früh. Ein Blick auf sein gerötetes Gesicht verriet ihr, wo er gewesen war.
Er schloß die Tür und sah sie an. Seine Augen waren blutunterlaufen und geschwollen. »Noch auf?« fragte er.
»Wie du siehst«, antwortete sie und ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer. »Komm ins Bett.«
»Es ist zu heiß.« Er trat an den Eisschrank und öffnete ihn. »Ich brauche noch ein Bier.«
»Hast du nicht genug gehabt?« fragte sie mit dumpfer Stimme. Er antwortete ihr nicht, während er Löcher in die Büchse stieß. Etwas Bier rann über sein Kinn und auf sein Hemd. Er setzte die Büchse ab und starrte sie an. »Kümmere dich um deinen eigenen Dreck«, knurrte er.
Sie sah ihn einen Augenblick an, wandte sich um und ging ins Wohnzimmer. Sie beugte sich zum Fenster hinaus und blickte besorgt die Straße entlang. Marja mußte jeden Augenblick nach Hause kommen.
»Was tust du?« fragte er streitsüchtig.
Sie antwortete ihm nicht. Er wußte ganz genau, was sie tat. Sie wollte wieder an ihm vorbeigehen.
Er griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. »Schaust nach deiner Tochter aus, was?« fragte er bösartig.
»Ja«, erwiderte sie und verfiel dabei ins Polnische. »Hast du was dagegen?«
Er antwortete in der gleichen Sprache. »Um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wahrscheinlich verdient sie sich mit dem Burschen, der sie jede Nacht nach Hause begleitet, in einem Hauseingang noch ein paar zusätzliche Dollar.«
»Geh ins Bett«, sagte sie schroff. »Du bist betrunken.«
Sein Griff um ihren Arm wurde fester. »Du glaubst wohl, ich weiß nicht, was ich rede?« fragte er lauernd.
»Ich glaube es nicht nur, ich weiß es«, entgegnete sie, entriß ihren Arm seiner Umklammerung und kehrte ans Fenster zurück. Sie blickte hinaus. Marja und Mike kamen die Straße entlang auf das Haus zu.
Einen Augenblick lang freute sie sich. Dieser Mike war ein netter Kerl. Sie paßten so gut zusammen. Eines Tages vielleicht - aber das lag noch in zu weiter Ferne. Manchmal mußte sie sich geradezu zwingen, sich bewußt zu bleiben, daß Marja noch immer ein Kind war. Sie wandte sich vom Fenster ab, und die Freude lag noch auf ihrem Gesicht.
»Ich gehe jetzt ins Bett«, erklärte sie. »Du solltest lieber auch kommen.«
Er rührte sich nicht. »Nein, es ist zu heiß. Ich trinke noch ein Bier.« Sie ging ins Schlafzimmer und begann sich auszuziehen. Dabei hörte sie, wie er in der Küche umhertaumelte, dann die Tür des Eisschrankes öffnete und eine weitere Büchse nahm. Sie warf sich einen leichten Morgenmantel über ihr Nachthemd und ging in die
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