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Die Moralisten

Titel: Die Moralisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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gleich, was Sie sagen oder was irgend jemand getan hat, ihr blieb bei allem die letzte Entscheidung. Sie selber hat alles von sich geworfen.«
    Ich antwortete ihm nicht. Ich mußte an einen Tag zurückdenken, der nun in ferner Vergangenheit lag. Jener Tag, an dem sie mich auf der Straße stehenließ, als ich sie mitnehmen wollte. Es war der Tag, an dem sie aus der Geyer-Anstalt entlassen wurde. Irgend etwas war dort mit ihr geschehen. Ich erkannte es in dem Augenblick, als ich sie den Weg von der Anstalt her auf mich zukommen sah. Sie hatte sich verändert. Erst als ich in ihre Augen sehen konnte, erkannte ich, was es war. Sie war älter geworden. Weit älter, als ich es jemals sein würde. Ich konnte sie noch vor mir sehen, wie sie in ein Taxi stieg und mich dort auf dem Bürgersteig stehenließ.
    Ich kehrte zu dem Wagen zurück, den ich mir für diesen Tag geliehen hatte, um sie mit nach Hause zu bringen, und fuhr langsam allein in die Stadt zurück. Ich betrat unsere Wohnung. Meine Eltern saßen am Küchentisch. Mein Vater trug seinen Sonntagsanzug und einen Schlips. Meine Beine waren wie aus Blei, als ich mich in die Küche schleppte. Ich sah, wie sie an mir vorbei zur Tür blickten.
    »Sie ist nicht mitgekommen, Mutter«, sagte ich niedergeschlagen. Meine Mutter war aufgestanden; ihre Augen waren sanft und ruhig. »Vielleicht ist es das beste, mein Junge«, sagte sie tröstend.
    Ich schüttelte heftig den Kopf, so heftig, daß ich die Tränen in meinen Augen spürte. »Nein, Mutter«, rief ich, »so ist es nicht das beste. Sie braucht mich. Ich weiß, daß sie mich braucht. Aber es gibt etwas, das sie zurückhält, und ich weiß nicht, was es ist.« Mein Vater war aufgestanden. »Ich bringe deine Sachen in dein Zimmer zurück, Mike«, sagte er. Langsam ging er aus der Küche.
    Ich blickte ihm nach. Armer Vater. Er verstand ganz einfach nicht, worum es ging. Ich wandte mich erneut an meine Mutter. »Was soll ich jetzt tun?« fragte ich.
    Sie sah mich einen Augenblick an, und dann sagte sie leise: »Vergiß sie, mein Sohn. Sie ist nichts für dich.«
    »Das ist so leicht gesagt, Mutter. Ich bin kein kleiner Junge mehr. Ich bin fast einundzwanzig, und ich liebe sie noch immer.«
    »Du liebst sie?« Die Stimme meiner Mutter klang spöttisch. »Was weißt du denn schon von Liebe? Du bist noch immer ein kleiner Junge. Du verstehst nur weh zu tun und zu schreien.« Plötzlich brach ihre Stimme, und sie wandte sich von mir ab.
    Rasch trat ich zu ihr und nahm sie in meine Arme. Ihre Augen waren von unvergossenen Tränen erfüllt. »Hör auf, Mutter«, sagte ich. »Hör auf. Es ist so schon schlimm genug.«
    In den Augen meiner Mutter lag ein Ausdruck, den ich nie zuvor gesehen hatte. »Aufhören?« rief sie. »Ich hasse sie! Möge mir Gott verzeihen, aber ich wünsche ihre Seele für das, was sie meinem Jungen angetan hat, zur Hölle.«
    »Vielleicht kann sie gar nicht anders, Mutter«, entgegnete ich. Meine Mutter blickte zu mir auf. »Sie könnte anders, mein Junge«, sagte sie bedächtig. »Vergiß das nie. Ihr bleibt stets die Entscheidung darüber, was sie tun will.«
    Das war nun viele Jahre her, und es war seltsam, den Alten fast das gleiche sagen zu hören. Ich fragte mich, ob ich jemals ihre Ansichten verstehen würde. Ich hatte schon seit langem jede Hoffnung aufgegeben, sie könnten die meinen begreifen.
    »Wen rufen Sie morgen auf?« fragte mich der Chef.
    Ich sagte es ihm.
    Er überlegte. »Bei diesem Tempo sollten Sie in weniger als zwei Wochen das Schlußplädoyer halten können.« Ich nickte.
    »Bis dahin bin ich draußen. Vielleicht kann ich Ihnen noch ein bißchen helfen.«
    »Wir hatten eine Vereinbarung getroffen, John«, sagte ich. »Es ist mein Prozeß. Sie hatten es mir versprochen.«
    »Oh«, rief er unschuldig, »ich hatte nicht die Absicht, Ihnen vorzuschreiben, was Sie tun sollen. Ich wollte Ihnen nur ein paar Ratschläge geben.«
    Ich mußte lächeln. Seine Art Hilfe kannte ich - sie bestand darin, daß er schließlich immer die Sache selbst in die Hand nahm. »Nein, danke«, erklärte ich kurz und bündig.
    »Schon gut, schon gut«, murmelte er verletzt.
    Als ich nach Hause kam, legte ich mich sofort ins Bett. Ich war eigentlich froh, daß niemand daheim war. Es war besser so. Ich hatte meine Mutter überreden können, draußen auf dem Land zu bleiben. Ich glaube, sie war nur deshalb auf meinen Vorschlag eingegangen, weil sie wußte, daß ich sie nicht in der Nähe haben wollte, solange der

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