Die Moralisten
Prozeß dauerte.
Ich streckte mich auf dem Bett aus und schloß die Augen. Marjas Gesicht tauchte vor mir auf. Der Ausdruck ihres Gesichts war der gleiche, den sie auch an diesem Tag im Gerichtssaal gehabt hatte. Ich hatte ihn noch immer nicht ergründet.
Warum sollte sie stolz auf mich sein? Ich versuchte doch, sie ins Gefängnis zu bringen. Ein Gefühl der Schuld durchdrang mich. Wäre es denn möglich, daß sie von mir erwartete, ich würde sie schonen? Rechnete sie mit meinen Gefühlen ihr gegenüber? Aber sie wußte doch nicht, wie ich heute empfand. Ich hätte mich auch ebensogut verändert haben können. Es konnte jetzt eine andere Frau für mich geben.
Kaum aber kam mir dieser Gedanke, als ich auch schon begriff, daß sie Bescheid wußte. Das war uns beiden gemein: eine Fähigkeit, in den anderen hineinzublicken, die niemand mit uns teilte.
Ich versuchte, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Aber es gelang mir nicht. Was ich auch tat, sie kam immer wieder. Ich dachte über sie nach; denn es gab so vieles, wovon ich nichts wußte. So vieles war ihr zugestoßen, woran ich keinen Anteil hatte. Mir fiel ein, wie ich draußen im Krankenhaus an sie gedacht hatte. Es war seltsam, daß ich wegen der Worte des Alten an sie hatte denken müssen.
Aber es gab eine Zeit, von der ich nichts wußte - jene vier Monate von dem Tag an, an dem sie die Anstalt verließ, bis zu jenem Tag, an dem ihr Name zum erstenmal wieder in den Polizeiakten erschien. Da mußte sie eine Hölle durchgemacht haben. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich während jener Zeit getan hatte. Aber meine eigenen Erinnerungen waren zu verschwommen, so daß ich immer wieder zu ihr zurückkehrte. Was hatte sie getan? Wohin war sie gegangen? Ich wußte es nicht.
Ich fühlte nur, daß sie mich damals dringender gebraucht hätte als zu jedem anderen Zeitpunkt ihres Lebens.
Und mich erfüllte das Bewußtsein, daß ich sie damals im Stich gelassen hatte.
Zweites Buch
Mary
Sie stand in der offenen Tür, und das Licht der Sonne schimmerte auf ihrem goldenen Haar. Sie zögerte einen Augenblick, dann nahm sie den kleinen Handkoffer aus der rechten in die linke Hand und streckte der Frau, die ihr gegenüberstand, die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Mrs. Foster«, sagte sie leise.
Die Frau ergriff ihre Hand mit einer fast männlichen Festigkeit. »Auf Wiedersehen, Mary«, antwortete sie. »Paß auf dich auf.«
Mary lächelte. »Das werde ich, Mrs. Foster«, versprach sie. »Ich habe in den anderthalb Jahren eine Menge gelernt.«
Es lag keine Wärme in der Stimme der Frau, als sie antwortete: »Das hoffe ich, Mary. Ich möchte es nicht erleben, daß du wieder in Schwierigkeiten gerätst.«
Das leichte Lächeln verschwand um Marys Mund. »Das werden Sie auch nicht«, erwiderte sie ruhig. Sie ließ die Hand der Frau los und trat schnell zur Tür hinaus. Das helle Sonnenlicht traf ihre Augen, sie blieb oben auf den Stufen stehen und blinzelte.
Sie hörte hinter sich die Tür mit einem dumpfen, metallischen Laut ins Schloß fallen. Jäh durchrieselte sie das Gefühl, nun frei zu sein. Es war ein erregendes Gefühl. Noch einmal drehte sie sich um und sah die geschlossene Tür an.
»Du wirst mich hier nicht wiedersehen«, flüsterte sie zur Tür gewandt. »Ich habe zuviel gelernt. Man hat mir hier zuviel beigebracht«
Die Tür starrte sie an. Ihre zwei kleinen Fenster waren den nichtssagenden Augen eines Fremden ähnlich. Plötzlich überlief sie ein Schauer, als ein Gefühl der Leere das Bewußtsein der Freiheit verdrängte. Sie ging auf die Straße zu.
In dem dünnen dunklen Mantel, den der Staat ihr geschenkt hatte, wirkte sie groß und schlank. Der Novemberwind preßte ihn fest an
ihren Körper, so daß sich ihre vollen Brüste, die schlanke Taille und ihre gerundeten Hüften deutlich abzeichneten.
Der alte Mann, der in dem kleinen Haus neben dem Tor saß, trat heraus, als er sie kommen sah. Er lächelte sie aus wässerigen Augen an. »Geht’s nach Hause, Marja?«
Auch sie lächelte. »Ich habe kein Zuhause, Großväterchen«, sagte sie. »Alles hat sich für mich verändert. Auch mein Name. Ich heiße Mary, vergessen Sie das nicht.«
Der Alte lächelte sie verständnisvoll an. »Ich werde es nicht vergessen, aber es wird dir nicht viel nützen. Für mich siehst du noch immer wie Marja aus. Das heiße Polenblut läuft noch immer in deinen Adern, daran kannst du nichts ändern.«
Noch immer lächelnd sah sie ihn an. »Ich werde noch sehr viel
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